Die Erzaehlungen 1900-1906
gingen ihre Gedanken beständig irgendwo in der Ferne spazieren. Auch las sie viel Gedrucktes und redete vom Meer und von fremden Städten, als wäre sie 73
dort gewesen. Und Geschichten wußte sie mehr als ein Kalender. Von fünfzig,
sechzig Jahren her wußte sie jedes Unglück, jeden Brand und jeden Totschlag, die weit in der Gegend herum geschehen und ruchbar geworden waren. Den
Messerkarle
hatte sie selber gekannt, und seine vier Totschläge und sein
Ende konnte sie heruntererzählen wie eine Litanei. Die neuerlich geschehenen Morde in Liebenzell und Neuenbürg, ja bis Weilderstadt und Leonberg hinüber
hatte sie glatt am Schnürchen. Und sie verstand auch zu erzählen. Ich weiß
noch, wie sie mir zum erstenmal die Geschichte vom Postmichel erzählte, und
die vom Wildberger Stadtbrand oder die vom Messerkarle.
Stockrabenschwarze Nacht war’s, und der Föhn ging stark. Da geht der
Karle aus seinem Versteck heraus, nimmt das Messer zwischen die Zähne und
klettert am Birnenspalier in die Herberge. Der Fuhrmann liegt und schläft, und hat sein Felleisen mit ins Bett genommen. Sucht der Karle die ganze Stube
durch und findet nichts. Geht ans Bett und tastet und fühlt das Felleisen
unterm Kissen neben des Fuhrmanns Kopf. Er zieht’s heraus und zieht mit
aller Vorsicht eine Viertelstunde lang Ruck für Ruck, damit der Fuhrmann
nicht erwacht. Er war frech, der Karle, aber dumm war er nicht! Langsam,
langsam zieht er. Da dreht sich der Fuhrmann im Schlaf herum, stößt an
des Karle Arm, wacht auf. Der Karle im ersten Schrecken schaudert, läßt sein Messer fallen. Der Fuhrmann nimmt’s und zielt auf ihn. Der Karle aber nimmt
das schwere Felleisen. Der Fuhrmann fängt an zu schreien, da haut ihm der
Karle dreimal mit dem schweren Felleisen über den Kopf, daß er sich streckt
und tot liegen bleibt. Derweil schlägt vor dem Haus der Hund an. Der Knecht
kommt auf den Hof, zündet die Laterne an, lugt um, horcht. Und der Karle
bleibt eine ganze Stunde lang auf dem Bett neben dem erschlagenen Fuhrmann
sitzen, bis alles still und sicher ist. Und dann durchs Fenster fort. Es war sein Zweiter.
Sie kannte aber nicht bloß verstorbene Totschläger und alte Geschichten. Sie kannte noch viel besser die lebenden Menschen, ihre Gewerbe, ihre Meinungen, ihre Geheimnisse, Krankheiten und Schicksale. Sie wußte die Zunftsprüche aller Handwerke, die Gesellengrüße, sie kannte die Sprache der Pennbrüder. Sie kannte auch sehr gut die Rangordnung der Gewerbe, und der fleißigste Schnei-dermeister wog ihr noch lang keinen Schlossergesellen oder Zimmermann auf.
Und sie wußte von den meisten Menschen genau, unter welchen Sternen ihr
Schicksal stand.
Siehst du , sagte sie einmal,
der Gerberhannes hat auch gemeint, er könne
sich seinen eigenen Adam zurecht drechseln. Ja, Prosit! Ein Bauer hätt er
bleiben sollen, weil er dazu geboren war, auch wenn er keinen Hof zu erben
hatte. Ich hab’s ihm gesagt noch wie er Lehrling war. Aber nein, Gerber mußt er werden! Und später starb das Weib, und das Geschäft ging schlecht, und
jetzt ist er wieder Gesell und sitzt an anderer Leute Tisch und frißt aus fremder 74
Schüssel, und seine Kinder hat der Schwager zu sich nehmen müssen. Schau,
was ein rechter Handwerker werden will, der muß ein warmes und schnelles
Blut im Leib haben, kein Bauernblut. Der muß über Land gehen und reisen
und viele Meister gehabt haben, eh daß er selber einer wird. Wo ist denn der Gerberhannes gewesen? In Calw, und ein halb Jahr lang in Horb, und dann
wieder in Calw, nicht einmal bis Pforzheim hat er’s gebracht. Er ist halt ein Bauer. Und ein Bauer, wenn er mehr als drei Stund zu Fuß lauft, dann wird’s
ihm schon wunderlich, und geht wieder heim. Und wenn einer vom Militär
nicht wieder heim kommt und Unteroffizier wird, so einer ist nie ein echter
Bauer gewesen. Und du, Peter, bist auch keiner.
Ich hörte das gerne, und sie hat, bei Gott, recht gehabt, und mit elf Jahren schon hätte ich mir von keinem sagen lassen, ich sei ein Bauer. Ein Handwerker, und obenein ein Handwerksbursch, ja das war schon besser! Aber da kam
der Lehrer zwischenein.
Doch vorher muß ich noch andres erzählen.
Manchmal haben Leute mir gesagt, die Kinderzeit sei doch das Beste im Le-
ben und alles, was nachher kommt, sei nur Enttäuschung und wenig Erfüllung.
Mir scheint dies nun nicht richtig, und schließlich ist doch ein kecker junger Mann oder ein kluger, fertiger Meister in seiner
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