Die Erziehung - Roman
außerhalb von Paris, da sie die Viertel infizierten und man der Meinung war, es sei besser, die Leute auf dem Land krepieren zu lassen. Die Pariser haben diese Pestilenz vergessen und drängen sich in die Konzerte, ohne nach der Herkunft der Saiten für ihre Cellos, Harfen und anderen Instrumente zu fragen, deren Töne sie verzücken. Was ich sagen will, es gibt nichts, was Paris unverschont lässt. Es gibt nichts, nicht einmal die minderwertigsten Gedärme, aus dem man nichts zu machen, aus dem man keinen Profit zu ziehen weiß. Es ist seltsam, daran zu denken, was für eine Herrlichkeit noch das hässlichste Ding erzeugen kann. Ich komme Ihnen in diesem Augenblick vielleicht verachtenswert vor, und ich gebe zu, dass ich das wahrscheinlich auch bin, aber in unserem Jahrhundert muss man seine Wahl treffen, man muss sich entscheiden. Und ich ziehe nun mal die Viole d’Amore und das Stabat mater dem buntscheckigen Charme der Tierkadaver vor. Kurz, ich nutze lieber aus, als dass ich mich ausnutzen lasse.« Gaspard betrachtete die dreieckige Form seines Rückens, seine enge Taille. Ein paar Sekunden lang schien es im Gegenlicht möglich, dass die Silhouette Etienne oder dem Vater gehörte. »Da ist mein Wagen«, sagte Louis, das Gesicht noch immer auf die Straße gerichtet. Er drehte sich um, und Gaspard sah, dass er ein mondänes Lächeln aufgesetzt hatte, als wäre er im Begriff, sich nach einem charmanten Diner von seinem Gastgeber zu verabschieden und seine vorzügliche Gesellschaft zu loben. Da Gaspard ihm im Weg stand, blieben sie einen winzigen Augenblick, der beiden viel zu lang vorkam, in der Mitte des Zimmers stehen. Gaspard trat einen Schritt zur Seite, so mühsam und schwerfällig, als hätte er seine Füße aus dem Fußboden gezogen. »Adieu«, sagte Louis und öffnete die Tür. Er trat in den Flur hinaus. Die Absurdität dieses Wortes traf ihn wie ein Schlag in den Magen. Der unpersönliche Abschied schmerzte ihn – doch was kannte er von Louis? Außer Emma verband sie nichts, nur ihre Begegnung und die wenigen gewechselten Worte, durch die Situation erzwungen. Gaspard wollte Louis zurückhalten, als wäre er Emma. Nein, überlegte er, nicht einmal Emma würde dies tun. Warum also litt er, der nichts von diesem Mann wusste, der ihn im Augenblick, da er sich in die Kutsche setzte und dem Fahrer den Befehl erteilte, Paris zu verlassen, bereits vergessen hätte? »Warum hat er mich nicht mitgenommen?«, flüsterte Gaspard in Richtung Flur. Ihm war, als hätte Louis, bevor er aus dem Zimmer gegangen war, seine Hände in ihn hineingebohrt, seine Eingeweide herausgerissen, sie gestohlen und entleerte ihn nun mit wachsender Entfernung nach und nach seiner Substanz.
Als Emma kam, lag Gaspard schon seit mehreren Stunden auf dem Bett, in seine Gedanken vertieft. »Er ist gegangen«, sagte sie. Sie schloss die Tür, versuchte das Zittern in der Stimme zu verbergen. »Ich weiß«, antwortete Gaspard. Er zeigte auf die von Louis zurückgelassenen Sachen am Fußende des Bettes. Sie kam näher, zog den Schal von ihren Schultern und streckte die Hand aus. Mit den Fingerspitzen streifte sie eine Perle des Colliers, ließ den Satin des Kleids knistern. Wie Louis vorausgesagt hatte, zeigte ihr Gesicht, das noch ein Tag zuvor gerührt gewesen war angesichts der Schönheit dieser Gegenstände, nur noch Verachtung, und sie wischte sie mit dem Handrücken vom Bett. »Nimm sie, verkauf sie, wirf sie fort, aber schaff sie mir aus den Augen«, seufzte sie, bevor sie sich ebenfalls hinlegte. So blieben sie lange ohne ein Wort, dann fragte sie: »Hast du ihn noch gesehen, bevor er gegangen ist?« Gaspard nickte. »Und hat er dir etwas gesagt? Hat er mir eine Nachricht, irgendetwas hinterlassen?« – »Nein, er hat überhaupt nichts gesagt«, antwortete Gaspard. Emma lachte, und ihr Lachen klang falsch: »Nicht nötig«, folgerte sie, »wir werden ja jeden Tag fast zehnmal verlassen, ist es nicht so? Mit Abschieden kennen wir uns aus. Ist mir egal, dass er weg ist. Aber dass er das dagelassen hat … Was meinte er bloß kaufen zu können, Gaspard?« Gaspard antwortete nicht, aber verspürte ein Gefühl des Grolls gegenüber Emma, in das sich ein Anflug schlechtes Gewissen mischte. Er hatte Louis gedrängt, ihr die Geschenke dazulassen, fand Emmas Reaktion ungerecht. Er hatte damit nichts anderes bezweckt als einen Abschiedstrost. Da er nicht die Kraft für eine Rechtfertigung hatte, stand er auf und nahm das Kleid und den Schmuck
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