Die Erziehung - Roman
hätte er sich von einer unsichtbaren Haut befreit, sämtliche Bedenken ab und ließ sie auf der Straße zurück.
Der Schneider war ein hagerer, liebenswürdiger Mann. Eine Ader zog sich über seine Stirn, die mit der Erregung zu zittern anfing. Er legte mehrere Stoffrollen vor ihn hin, und Gaspard sah aus den Augenwinkeln, wie die Blicke der Lehrmädchen von den auf ihren Knien wogenden Stoffen abließen, um mit den Linien seines Profils zu flirten, bevor sie sich rasch wieder auf ihre Arbeit richteten. »Ich bin unschlüssig«, sagte Gaspard zum Schneider. »Gut«, antwortete der Schneider, »aber können Sie auch bezahlen, junger Mann?« Ohne sich vom Glanz der Stoffe abwenden zu können, griff Gaspard in seine Tasche, zog das Geld hervor und legte es auf den Ladentisch, dann entsann er sich plötzlich des Kleides und drapierte es ebenfalls vor den Augen des Handwerkers. »Hm«, murmelte er, indem er das Kleidungsstück befühlte, »erlauben Sie mir, Ihnen etwas Angemesseneres zu empfehlen.« Im Handumdrehen lagen noch mehr schillernde Stoffe da, die knisternd und funkelnd auf und ab wogten. Baumwolle, Seide, Satin, Samt, Krepp und Spitze, der Mann holte immer mehr Farben und Muster aus dem Lager seiner Werkstatt, die Gaspard, während ihre Fülle sich auffächerte, mit genauso viel Unentschlossenheit wie Begeisterung erfüllten. Zu jedem anderen Moment wäre das Atelier ein Laden wie jeder andere gewesen, jetzt aber verwandelte die Vielfalt den Ort zu einem herrlichen Tempel. Ein Schauder lief ihm vom Nacken über den Rücken bis zum Kreuz hinunter. »Nehmen Sie sich Zeit«, ermutigte ihn der Schneider und verschwand im Lager. Gaspard streckte die Hand nach den Stoffen aus. Die Arbeiterinnen mokierten sich tuschelnd über den Jungen in seinem geschmacklosen Aufzug. Ihr Geschwätz hörte sich an wie ein Wiegenlied, und er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bewegung der Stoffe, die sich kräuselten wie Wellen. In den Falten reflektierte das Licht, leuchtete wie Sonnensplitter in den sich brechenden Wellen einer unruhigen See. Er ließ die Handfläche über den Stoff gleiten, drückte sie in den weichen Samt, den fließenden Satin. Konnte er angesichts dieser Fülle eine Wahl treffen? Gewöhnlich beschränkten sich seine Entscheidungen auf praktische Angelegenheiten. Angesichts dieser Vielfalt war er wie betäubt. Er wurde unschlüssig, wünschte aber gleichzeitig, dass der Augenblick fortdauern, dass er noch lange dieses triviale Vergnügen haben würde: zu wählen, welcher von all diesen Stoffen, die Etienne, Emma, die Stadt und die ganze restliche Welt in den Schatten stellen würden, ihm am besten gefiel. Während er Farben und Muster zusammenstellte, wurde eine Idee immer offensichtlicher: Sobald er eingekleidet war, würde er die d’Annovres aufsuchen. Die Gefahr, dass sie Bescheid wussten über das Ende seiner Beziehung mit Etienne, war gering. Gaspard dachte, er könnte ihnen durchaus einen Höflichkeitsbesuch abstatten. Ihm war bewusst, dass er damit eine Unschicklichkeit begehen könnte. Er war ein einziges Mal bei ihnen gewesen, aber er würde seine Abwesenheit zu rechtfertigen und die Comtesse mit Schmeicheleien zu überhäufen wissen. Vielleicht könnte er an ihr Wohlwollen appellieren, sie bitten, sie möge ein paar Bekanntschaften zu seinen Gunsten ins Spiel bringen. Dieser Plan schien absurd, erfüllte Gaspard aber mit Begeisterung. »Ich habe es eilig, haben Sie nichts in meiner Größe?«, fragte er den Schneider, der wieder zum Vorschein kam. »Ich fürchte nein, Sie müssten ein paar Tage warten«, antwortete der Mann. »Ich biete Ihnen das Doppelte, Sie müssen nur Ihre anderen Kunden etwas warten lassen«, beharrte Gaspard. Der Mann tat, als überlegte er: »Ich habe vielleicht noch etwas auf Lager, aber man müsste die Hose und die Ärmel kürzen.« Als er wieder im Hinterzimmer verschwand, riss sich Gaspard von den Stoffen los, ging zum Schaufenster und betrachtete die Straße, auf der sich die Gesichter auf das Gehen, auf eine Beschäftigung, auf irgendein Ziel konzentrierten. Gibt es einen anonymeren Ort als diese Stadt? , dachte Gaspard. Die Erinnerung an die Liederhändlerin huschte vorüber. Der Gedanke an seinen eigenen Tod erschreckte ihn, und auf egoistische Weise der Gedanke, dass das Leben nach ihm weiterginge. Da sein Leben genauso unbedeutend war wie das der Liederkrämerin, hatte seine Existenz nicht den geringsten Einfluss auf das Treiben der Straße, sein Ende würde den
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