Die Erziehung - Roman
Lauf der Stadt nicht aufhalten. Es war eigenartig zu denken, dass dieses Leben, durch das er die Welt wahrnahm, im Vergleich zum Universum nur eine winzige Kleinigkeit war. Und obwohl er das Wesen der Existenz selbst verkörperte, wäre sein Ende nicht einmal eine Anekdote wert. Da war niemand, der sich darüber erregt hätte. Und sollte es doch jemanden geben, so würde die Erinnerung nicht viel später mit dem oder der verschwinden, die mit Bedauern daran dachten. Schließlich sagte sich Gaspard, dass seine Existenz, wie jene der Passanten auf der anderen Seite des Schaufensters, ein so kurzer Augenblick war, dass ihr Sinn nicht erfasst werden konnte. Der Gedanke an seine Endlichkeit, die Zerbrechlichkeit seines Lebens, der ihn eines Abends überfallen hatte, als ein Junge bei ihm nach ein wenig Zärtlichkeit suchte, holte ihn im Schneideratelier ein und bedrängte ihn erneut. Er hätte sich gerne emporgehoben und sich von seiner Mittelmäßigkeit, von der Leere seines Lebens abgesetzt, doch Gaspard stieß an die Grenzen seines Begriffsvermögens. Auf den Tod pfeifen, wie Etienne ihm geraten hatte? Um mit größerer Intensität zu leben? Doch was bedeutete das? Was musste er tun, um der Abfolge von Enttäuschungen, von Bedauern, Träumen, Schranken und Unmöglichkeiten ein Ende zu setzen? Gaspard wiegte den Kopf hin und her. Sein Spiegelbild erschien in der Scheibe, und durch es hindurch gingen immer mehr Gesichter, vulgäre und flehende, fahle und gerötete Gesichter. Er fühlte sich erschlagen, weit entfernt von dem Zustand der Euphorie, in dem er noch Minuten zuvor gewesen war, als die Auslage der Stoffe eine Änderung, eine Ausflucht verhießen. Er überlegte gar, ob er sich davonstehlen sollte, als der Schneider wiederauftauchte und eine Jacke um seinen Oberkörper legte. »Perfekt«, rief er aus und zwang Gaspard zu einem Lächeln.
Als er sich umgezogen hatte und ohne große Überzeugung seine Jacke zuknöpfte, hielt der Schneider einen Spiegel vor ihn hin. Verblüfft sah er sich an. Im Wagen auf dem Weg zur Oper hatten Etiennes Kleider einen neuen Mann aus ihm gemacht. Jetzt empfand er ein ähnliches Gefühl. Doch etwas war anders an der Oberfläche dieser Erscheinung. Gaspard konnte sich nicht erinnern, sich in den letzten Monaten genau betrachtet zu haben. Natürlich hatte er ab und an sein Spiegelbild erhascht, aber unmerklich hatten sich die Kunden unter seiner Haut eingenistet, bis sein Gesicht von unerträglicher Banalität gezeichnet war. Doch von nun an war er ein Mann von Welt, Seidenstrümpfe schmiegten sich um seine Waden, die Kniehose betonte die Rundungen seiner Oberschenkel, der Anzug rahmte seinen Oberkörper, und das Hemd leuchtete beigefarben aus den Ärmeln. Der Strichjunge schien einem … erfolgreichen Mann gewichen zu sein, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Er zog das weiße Jabot zurecht. Das war es, genau das. Sofort waren Ängste und Zweifel weggewischt, denn wenn er seine Erscheinung nach Louis’ Vorbild einsetzte, standen ihm sämtliche Türen offen. War er schön? Die Schneiderinnen hatten ihn unentwegt angesehen. Seine Züge, seine Physiognomie, hatte sich verändert. Sein Gesicht war hagerer, die Zeit im Bordell hatte ein Spur von Desillusionierung darin hinterlassen. Der Jugendliche war dem abgehärteten Mann, dem Ernüchterten gewichen. Hatte er diese Falte auf seiner Stirn noch nie gesehen, genau über seinen Augenbrauen, die er nun ein wenig runzelte, um einen ernsthaften Gesichtsausdruck zu machen? Das Bild war überzeugend, Gaspards Bedenken waren verflogen. Der Schneider und die Arbeiterinnen hantierten um ihn herum, gaben ihm den letzten Schliff, näherten sich seinem Körper mit dem Respekt, den seine Erscheinung forderte. Er reckte sich. Wie hatte er nur glauben können, es wäre möglich, auf andere Art zu leben! Es war so offensichtlich, man brauchte ihn nur anzusehen. Da ihm noch ein paar Sous blieben, würde er sich den unschönen Bart von den Wangen rasieren lassen. Dann brauchte er andere Schuhe, flache mit Schnallen, und vielleicht ein paar Blumen oder Schokolade für die Comtesse. Gaspard wollte seine Sache richtig machen. Die Erinnerung an das Essen, das ihn für einen Abend in die Gesellschaft hineinkatapultiert hatte, war noch lebendig in ihm. Er hatte sie oft wiederbelebt, sich jede Einzelheit ins Gedächtnis gerufen, jedes Wort, um sicher zu sein, es tatsächlich erlebt zu haben und für einen Moment die so andere Seite seiner Existenz zu vergessen.
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