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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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sie noch immer ein Mensch war, selbst wenn es so weit gekommen war, dass sie noch in den Lügen eines Mannes, in seiner Verachtung einen Funken Glück fand. »Natürlich nicht«, antwortete Gaspard. Sie schien ein wenig beruhigt, und ihr Blick verlor sich in der Betrachtung der Zimmerdecke. Wieder schaute er sie an, dachte, dass Louis sich nicht unnötig mit Moral oder Selbstachtung herumschlug, dass er wohl die nötige Gelassenheit gefunden hatte, um in der Welt zurechtzukommen, und sich nicht weiter um die Konsequenzen seines Tuns scherte. Er konnte ihn hassen, wie er Etienne gehasst hatte – er war sich seiner Wut, die er noch wenige Tage zuvor genährt hatte, nicht mehr so sicher, sie fluktuierte, war in eine einfache Verleugnung umgeschlagen –, doch Louis war wenigstens nicht so dumm wie er oder Emma. Wäre es nicht Paris gewesen, so hätte er sein Glück in Lyon, Toulouse, Brüssel oder London gemacht und seine Tugend geopfert. Zumindest wäre er nicht, wie Gaspard oder Emma, dieser Gleichgültigkeit ausgeliefert gewesen, dieser Verachtung, die zwischen ihnen und dem Rest der Welt existierte. »Natürlich nicht«, wiederholte er und ließ den Porzellanarm los.
    Als er eine Woche nach ihrem Gespräch Louis in ihrem Zimmer vorfand, wusste er, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Er schaute aus dem Fenster auf die morgendliche Straße hinaus. Gaspard war eingetreten, weil die Tür halb offen gestanden hatte, und blieb nun wortlos im Raum stehen. Louis hielt in der rechten Hand eine Perücke, die er wohl kurz zuvor abgenommen hatte. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab. Durch seine linke Hand glitt das Collier, das er Emma geschenkt hatte, über seinem Arm hing das notdürftig gefaltete Kleid. Als er merkte, dass Gaspard ihn anschaute, sagte er zur Erklärung: »Ja, ich gehe …«, was in seinen Augen die Rücknahme der Geschenke rechtfertigte. Eine Staubflocke setzte sich auf den Samt seiner Hose, und er wischte sie mit einer lässigen Handbewegung weg. »Wohin gehen Sie?«, fragte Gaspard. Er wusste nicht, was er sagen sollte, um ihn eine Weile zurückzuhalten, er spürte eine eigenartige Rivalität, als er diesem Mann gegenüberstand. Im Gegensatz zu Etienne , dachte er, flieht er nicht aus Langeweile oder zum Vergnügen, sondern aus Notwendigkeit . Dieser Mann, zur Flucht verurteilt, um seine Interessen zu wahren, musste eine Einsamkeit kennen, die seiner nicht unähnlich, wenn auch vorzuziehen war. »Nach Lausanne, in die Schweiz. Wir hatten nicht die Zeit, uns näher kennenzulernen, aber Emma hat von Ihnen nur in den höchsten Tönen gesprochen.« – »Lassen Sie ihr das da«, sagte Gaspard und zeigte auf das Kleid und die Halskette. Der andere betrachtete die Gegenstände, zuckte dann die Schultern und ging aufs Bett zu. »Na gut«, sagte er und legte die Sachen aufs Fußende. Denn drehte er sich zu Gaspard und schaute ihm ins Gesicht: »Sie halten mich wohl für habgierig, nicht wahr? Ich meine … weil ich die Sachen mitnehmen wollte?« Hinter Gaspard ging die Tür zu, und er machte eine Geste, sie offen zu halten, streifte aber bloß die Kante. Sie fiel mit einem Knacken ins Schloss. »Sie war glücklich«, antwortete er und senkte den Blick, hielt dem grauen, ruhigen von Louis nicht stand. »Sie wird bald von Hass erfüllt sein«, erwiderte der Mann. Er seufzte, knöpfte seine Jacke zu, schlug den Kragen hoch. Zu Gaspards Überraschung kehrte er wieder ans Fenster zurück. Während Gaspard zögerte, in den Flur hinauszugehen, sagte Louis: »Haben Sie Paris zu Zeiten der Kadavergruben gekannt?« – »Nein«, entgegnete Gaspard mit einer zu tiefen Stimme. »Damals gab es Abdecker, deren Beruf es war, die Pferde und das Vieh zu töten und die Straßen von ihren Überresten zu säubern. Sie arbeiteten mit den Darmsaitenhändlern zusammen, beide handelten mit dem Tod. Ich erinnere mich, ganze Felder voller Kadaverberge gesehen zu haben, Überreste von Pferden und zerlegten Tieren, alles ein einziges Durcheinander von Gedärmen, ein riesiger Fleischhaufen. Und was für ein Gestank! Man sagt, dass Paris stinkt, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was diese Gruben von sich gaben. Im Sommer brummte es von Fliegen, deren Körper in der bleiernen Sonne glänzten wie Diamanten. Die Darmsaitenhändler, die sich in dieses Grauen hineinwagten, holten die Gedärme heraus, weideten sie auf der Stelle aus, um Saiten für Musikinstrumente daraus zu machen. Heute befinden sich diese Gruben mehrere Meilen

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