Die Erziehung - Roman
gemacht, auch Etienne hatte Lektionen erteilt. Gaspard ließ sich nicht täuschen, aber von der Trunkenheit, von Emmas Begeisterung und von Louis’ subtilem Spiel angesteckt, sagte er: »Verwöhnen Sie sie nur, sie hat es verdient.« Der Mann schaute ihn an, überrascht, ihn sprechen zu hören, als würde er sich erst jetzt seiner Anwesenheit bewusst. Emma blickte ihn dankbar und mit leicht vorwurfsvoller Miene an. »Louis ist erst seit drei Wochen in Paris, aber er kennt bereits wichtige Leute.« – »Morgen«, ergänzte Louis, »fahren wir mit meiner Kutsche aufs Land.« – »Hast du das gehört«, rief Emma, »er hat eine Kutsche!« Sie wurde von einer unwiderstehlichen Kraft zu ihm gezogen, sie sah sich bereits auf einem Waldweg, während die Wintersonne über ihren Köpfen durch das dichte Dach aus Baumkronen strahlte, den Arm fest um den von Louis geschlungen. In der Feuchtigkeit der Schenke neigte sie ihren Körper Louis, diesem Traum entgegen, den sie mit den Händen zu berühren glaubte.
IV
DER ARRIVIST
Während Gaspard trotz unermüdlicher Abfolge der Freier nur mit Mühe seine Miete aufbrachte, hörte Emma auf, sich zu verkaufen. Sie ließ sich in den Wochen, die auf ihre Begegnung mit Louis folgten, immer seltener blicken, schlief lieber im Hotel, vernachlässigte Gaspard, der regelmäßig an ihre Zimmertür klopfte. Meist kehrte er ohne Antwort in sein Zimmer und zu den Jungen zurück, von denen er sich distanziert hatte. War Emma nicht da, verband ihn nichts mehr mit den anderen Bewohnern, eine Spaltung hatte stattgefunden, eine Kluft war entstanden, die ihn immer stärker von ihnen abrückte, gleichgültig machte für ihre Worte, ihn von den anderen und sich selbst entfremdete. Wenn es vorkam, dass einer von ihnen zu ihm schlüpfte, ließ Gaspard seine Zärtlichkeiten abwesend über sich ergehen. Seine Gedanken schweiften ab, während er auf das errötete Gesicht des Jungen, auf einen Punkt im Zimmer oder eine Möbelecke starrte. Er fragte sich, was Emma tat, welche Berührungen sie in diesem Augenblick wohl ausführte, die vielleicht an Louis’ Körper gerichtet waren. Trotz der egoistischen Erregung des Jungen kam ihm wieder das Gefühl hoch, das er am Abend vor ihrem Zimmer gehabt hatte, als er sich auf die Begegnung mit Louis vorbereitete. Dann wurde ihm die Endlichkeit der Dinge bewusst. Wie Lucas, Etienne oder Billod verschwand Emma ohne jede Erklärung, denn das Leben verlangte keine, es gab und nahm planlos, um nichts als Stumpfsinn und eine betäubende Einsamkeit zurückzulassen. Auch Gaspard würde verschwinden. Diese Vorstellung, bisher nie mehr als eine vage Ahnung, wurde auf einmal so konkret, dass sein Herz zu trommeln anfing, und er wollte den Jungen zurückstoßen, wollte aufstehen, schreien. Was konnte er tun, um mit diesem Alltag zu brechen, um wirklich zu leben und nicht wie eine Larve unter anderen dahinzuvegetieren? Wenige Schritte von ihnen war eine Liederhändlerin leblos in ihrem Bett aufgefunden worden, drei Wochen nach ihrem Tod. Der Geruch musste erst bis auf die Straße dringen, damit die Nachbarn – die zunächst an eine verendete Katze in einer Dachrinne dachten – sich wunderten: So stank keine Katze, nicht einmal eine tote. Um die Händlerin war ein wallendes Kleid aus Ungeziefer drapiert, in einem wogenden, satten Weiß. So war Paris: Zwei Mitglieder derselben Familie konnten in einer Straße leben und sich nie begegnen, zwei Nachbarn sich kaum kennen. Der Tod bedeutete nichts als Gleichgültigkeit und Unannehmlichkeiten. Gaspard erinnerte sich an sein Zimmer im Faubourg Saint-Antoine, an den Erhängten, gegen den der Vermieter gewettert hatte. Er musste auch an die salzbedeckten Leichen denken, die im Châtelet auf den Boden tropften. Gaspard begriff, dass auch er zu denen gehörte, dessen Tod nichts als Ungelegenheiten darstellte, deren Überreste niemand holen kam, einzig dazu bestimmt, Voyeuren und verdorbenen Grafen als Ablenkung zu dienen. Das Zimmer, das Fachwerk an den Wänden, das Gewicht des Jungen, all dies bildete ein drückendes Joch, aus dem er sich nicht befreien konnte. Er konnte nichts anderes tun, als mit schwerem Atem liegen zu bleiben. Das Universum schien sich auf seiner Brust niederzulassen, sein unermessliches Gewicht auf ihn zu legen.
Während der drei Wochen, die Emmas Beziehung mit Louis andauerte, kam es vor, dass sie Gaspard aufsuchte und mit ihm ausgehen wollte, was er aber stets ablehnte. Er begnügte sich damit, ihr voller Neid
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