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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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schätzte den Umgang mit Gaspard, da sie sich mit ihm manche Übertretungen leisten konnte, die sie später als kleine Sünden ohne Belang einstufte. Konnte man ihr vorwerfen, zu freundschaftlich, zu mütterlich zu sein? Vielleicht diente Gaspard auch als Rache an dem Comte de V., mit dessen Fernbleiben ihre Diners an Prestige eingebüßt hatten. Der Knabe war weniger streitlustig, er wetzte seine Schuhe nicht am Marmor des Hofes ab, aber er war bestimmt eine dieser auf den ersten Blick unbedeutenden Beziehungen, zu denen man sich eines Tages beglückwünscht. Außerdem arbeitete er nicht, also musste er wohl über ein wenig Vermögen verfügen. Nicht wissend, dass es sich um das ihre handelte, schloss sie: Auf dem Land sind selbst die Adeligen etwas ungehobelt. Seine Kleidung bestätigte sie in dieser Vorstellung. Und so lobte sie Gaspards Erscheinung, ergötzte sich an seinen Anekdoten, rühmte vor allen, die es hören wollten, wie erhebend seine Anwesenheit in ihrem Hause sei. Zur Befriedigung ihres Gemahls überzeugte sie schließlich mit viel Eloquenz auch die Stammgäste und weckte ihr Interesse an dem Neuankömmling. Gaspard zeigte sich ebenso bemüht, der Comtesse zu gefallen, wie ihren Mann zu befriedigen. Aber genauso wie er den Blick des Alten auf seinem Körper nicht mehr ertrug, wurde ihm die Comtesse d’Annovres verhasst.
    Adeline d’Annovres zweifelte an seiner Glaubwürdigkeit. Sie sah in Gaspard einen erstklassigen Intriganten und machte keine Anspielungen mehr auf den Verdacht, den sie ein Jahr zuvor geäußert hatte. Eines Tages, als sie auf der Veranda saßen und Karten spielten, um die sonntägliche Langeweile zu vertreiben, wurde sich Gaspard einer wachsenden Anziehung zwischen ihnen bewusst. Sie saß neben der Glaswand, der sie den Rücken zukehrte, und stickte an einem Spitzendeckchen. Der Tag schien sie in seinen Armen zu halten. Das Licht verbreitete sich auf dem Blattwerk, ließ tausend funkelnde Tupfen in der Brise tanzen, die sich im Glas reflektierten und die hochgesteckten Haare Adelines, die Haut ihres Halses, das Rosa ihrer Wangen bestreuten. Auch wenn er ihren Anblick nicht suchte, konnte er sich nicht von ihrem Bild lösen, als gäbe es in diesem Raum, in dem ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, nichts anderes zu sehen als die Stickerin, deren Arbeit sich auf ihren Knien fältelte. War es die Wirkung des Lichts oder die Befriedigung, hier zu sein, die Gewissheit, seinen Platz in diesem Kartenspiel durch Mut und Entschlossenheit erobert zu haben, die ihn Adeline d’Annovres in ihrem blau schimmernden Kleid schön erscheinen ließ? Ihr Gesicht war über die Hände gebeugt, die sich energisch und präzise an den Baumwollfäden zu schaffen machten. Es war nicht Lust, doch in ihre Freundschaft mischte sich eine ästhetische Erregung, wie er sie gelegentlich beim Hören eines Klavierstücks, beim Anblick eines Gemäldes empfunden hatte. Eine Schönheit, dachte er, die nicht vergehen dürfte, die immer andauern müsste. Er legte seine Karten nieder, achtete nicht mehr auf die Gespräche, die am Tisch geführt wurden, und konnte den Blick nicht von den Gesten der Tochter d’Annovres wenden, dachte mit Überzeugung, dass diese Harmonie genügen müsse, um die Liebe zu rechtfertigen, ja, dass diese Blendung die Liebe war , da sie bei ihm nichts anderes auslöste. Die Beharrlichkeit von Gaspards Blick alarmierte sie. Instinktiv hob Adeline die Augen und situierte mit Genauigkeit, woher diese Intuition rührte, heimlich beobachtet zu werden, die sie schon eine ganze Weile hatte. Als sich ihre Blicke trafen, spürten beide, dass jenseits der von den Anwesenden geäußerten Worte etwas aufkeimte, etwas anderes als der Respekt, den sie gewöhnlich füreinander empfanden, nur miteinander sprechend, wenn es sein musste, und darauf achtend, nie allein zu sein. Ergriffen vielleicht von diesem Geständnis, das jeder unwissentlich dem anderen machte, senkten sie die Köpfe, gaben vor, sie würden sich für ihre Beschäftigung interessieren. Doch unfähig, die Lust zu unterdrücken, beseelt von dem Wunsch, die Verwirrung im Gesicht des anderen noch einmal zu sehen, suchten sie den Blick erneut, für den Bruchteil einer Sekunde, um ihn abermals zu fliehen, verlegen über die Röte auf ihren Wangen. Dieses Spiel zog sich den ganzen Nachmittag hin, und Gaspard dachte: Sieh an, eigenartig, es ist mir noch nie aufgefallen, aber bestimmt gefalle ich ihr ein bisschen. Dann wurde er dreister, sprach

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