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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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d’Annovres besaßen im Salon eine Uhr, die die Stunden schlug und die sich ausdehnende Zeit durch das Ticken der Sekunden rhythmisierte. Dieser Gegenstand, der stolz im Raum stand, wurde zum Denunziant seiner Langweile. Jede Bewegung des Zeigers, jedes Schlingern der Mechanik quälte ihn, und er hielt sich von der Uhr fern, wann immer es ging. Diese Zeit hatte keine Konsistenz, sie formte sich je nach Stimmung. Sie zog sich dahin mit der Trägheit einer Blindschleiche, dehnte sich endlos aus. Gaspard dachte: Wie lange sitzen wir schon tatenlos hier herum? Die Uhr antwortete ununterbrochen: eine Ewigkeit, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. So verzerrt sie auch war, die Zeit lief weiter, und Gaspard erlebte eine Abfolge von Szenen, die er nur durch armselige Einzelheiten voneinander unterscheiden konnte: Am Tag zuvor hatte er neben dem Fenster gesessen und mit Adeline gesprochen. Oder war das vorgestern? Man hatte Champagner serviert … Zu welcher Gelegenheit? Diese Verdrossenheit drückte ihm auf die Brust, als hätte sich die versammelte Gesellschaft der d’Annovres auf seinem Oberkörper niedergelassen mit dem Entschluss, sich nicht mehr von dort zu rühren. Dieses Beklemmungsgefühl, das ihn manchmal ergriffen hatte, als er neben Lucas schlief, in der Stille des Kellers oder bei der Berührung der Jungen oder der Freier, entsprang aus ihm selbst, denn er fühlte diese Kraft wie Quecke aus seinen Eingeweiden sprießen, um sein ganzes Fleisch zu überwuchern.
    So entschloss sich Gaspard, Emma zu besuchen. Die Monate ihrer Abwesenheit hatten seinen Groll besänftigt, aber auch seine Erinnerungen verfälscht, und der Verkauf des Kleides und des Schmucks waren zu einer Nebensache geworden. Er lebte im Überfluss, diese paar Sous hatten nichts zu bedeuten. Ohne jede Sorge oder Scham beim Gedanken, Emma wiederzusehen, marschierte er Richtung Rue du Bout-du-Monde. Im Gegenteil, er war stolz und selbstsicher, denn er würde dort in einem neuen Licht erscheinen, Emma durch seine stattliche Erscheinung blenden, und sie würde bewundern, dass er dem Würgegriff der Straße entkommen war. Durch seinen Besuch würde Gaspard Emma eine Verbundenheit unter Beweis stellen, die er indes nicht wirklich fühlte. Zwar war sie in einem Moment der Verirrung seine Vertraute und Freundin gewesen, aber konnte er heute noch immer sagen, dass er wahre Zuneigung zu ihr empfunden hatte? Er bezweifelte es. Er fühlte sich diesem Jungen von damals fremd, Emma schien weit weg, ihre Existenz nicht greifbar. Er war heute so anders, dass ihre Werte nichts mehr gemein hatten. Was hat uns bloß miteinander verbinden können? , dachte er, noch immer im Gehen. Ein junger Aristokrat konnte sich nicht in eine Dirne vernarren. Du gehst zu Emma, um dich davon zu überzeugen, dass du dich auch wirklich verändert hast , meldete sich eine Stimme in einem Winkel seines Gewissens. Nein , redete er sich ein, ich gehe zu Emma, um ihr zu zeigen, dass ich sie nicht vergessen habe, um ihr ein wenig Hoffnung und Stolz zu geben . Er bewegte sich sonst nur noch in der Droschke fort, hatte aber beschlossen, zu Fuß zu gehen, denn er wollte es nicht allzu weit treiben und mit einer Kutsche vor dem Bordell vorfahren. Vor allem musste er sich bescheiden geben. Emma sollte nicht spüren, dass sie minderwertig war. Dabei , sagte die Stimme, ist sie genau das, man kann es drehen und wenden, wie man will. Wie auch immer , dachte Gaspard, das Gehen tut mir jedenfalls gut . Das Treiben auf der Straße regte ihn an. Er war sich bewusst, dass er sich von dieser gräulichen Masse abhob, und bei seinem Vorbeigehen hoben sich die Blicke und legten sich auf ihn. Er nahm es gleichgültig zur Kenntnis, rieb sich lässig die Weste, als eine vorüberfahrende Droschke einen Staubfilm auf seiner Kleidung hinterließ, dann beschleunigte er den Schritt, als wollte er von der Straße fliehen. In Wirklichkeit aber war dieser Ausflug einfach besser als die Langeweile, die ihn sofort wieder ergreifen würde, sobald er die Schwelle zu seinem Apartment oder zum Haus der d’Annovres überschritt. Der Tag war heiß, die Gerüche, die der Sommer erblühen ließ, begannen die Luft zu sättigen. Menschen- und Tierkörper schwitzten unter der hoch am Himmel stehenden Sonne, Verkaufsbuden und Stände begannen sich wieder bunt durcheinander auf den Straßen zu verteilen, und Gaspard musste unweigerlich an seine Ankunft in Paris denken, als er das Drunter und Drüber der Hauptstadt entdeckte.

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