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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Kapitale gepresst. Niemand weiß, dass sie bald alle eins sein werden, ein Saatgut im Tod: ein immenser, ein gargantuanischer, ein fruchtbarer Haufen Humus für Paris.
    Emmas Tod versetzte Gaspards Aufstiegswunsch einen neuen Schub. Nach ihrer letzten Begegnung stürzte er die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. Von der plötzlichen Sonne auf dem Gesicht geblendet torkelte er die ersten Meter, wäre beinahe gegen einen Zahnbrecher geprallt. Er nahm jede Einzelheit in überzogener Klarheit wahr: die Krümmung der Hauswände, die stummen, blind unter den Dächern hängenden Fenster, die Rufe eines Butterhändlers, eines Scherenschleifers, die Leier einer Drehorgel. Lange stand er an eine Wand gelehnt, betäubt vom Lärm der großen Stadt, ohne dass der Gestank jenen von Emmas Endlichkeit überdecken konnte, dann lief er quer durch die Straßen, gelenkt von dem Bedürfnis, zwischen sich und diesem Tod die größtmögliche Distanz zu schaffen. Als er vor den Stadtschranken stehen blieb, hatte ihn sein Empfindungsvermögen verlassen, und nichts von dem, was ihn umgab, hinterließ irgendeinen Eindruck bei ihm. Losgelöst von allem, fühlte er sich in dieser Stadt, als wäre sie ein Modell aus Pappmaché. »Ich konnte ihr die Hand nicht geben, ich konnte ihr nicht einmal die Hand geben«, wiederholte er. Die Wahrheit der Worte nahm ihm die letzte Kraft. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Haut fühlte sich in seiner hohlen Hand wie eine Ledermaske an. Die undeutlichen Gestalten um ihn herum stießen ihm gegen die Schultern, doch keine von ihnen wunderte sich über diesen von seiner Flucht mitgenommenen Adeligen, selbst die Sonne trank gleichgültig das Wasser von seiner Stirn, legte ihr Licht wie ein Joch um ihn.
    In den folgenden Tagen wurde Gaspard unentwegt von der Gestalt Emmas zwischen den Laken verfolgt. Dieser Tod konnte auch ihn einholen, er zeigte die Möglichkeit eines Falls, rief ihm unaufhörlich einen Aspekt der Welt und seiner Existenz in Erinnerung, von dem er geglaubt hatte, ihn beiseiteschieben zu können. In seinen Träumen tauchte wieder der Fluss auf. Er verkörperte sich in der Gestalt Emmas, schuf ein Wesen zwischen Fleisch und Wasser, das ihn zu umschlingen suchte. Die Zeit wurde wieder lang in der Feuchte seines Zimmers. Von seinem Bett mit den sauberen Laken schaute Gaspard in den Flur hinaus, auf die Zimmerflucht, und ignorierte es, wenn ein Träger oder der Graf an die Tür klopfte. Immer wieder sah er das ausgemergelte Gesicht Emmas auf dem weißen Hintergrund vor sich; ein Schweißtuch, das sich in seiner Einbildung auf und ab bewegte und vor dem er seufzend Abbitte tat. Als er sich endlich aus dem Bett quälte und der Alltag mit seinen Salons langsam das Schuldgefühl verdrängte, verblasste die Erinnerung an Emmas Tod, einzig die Entschlossenheit, in der Welt voranzukommen, blieb zurück. Aber auch die Überzeugung, durch diesen Tod zum Tier geworden zu sein, sich an jenem Tag, als er die ausgestreckte Hand verweigert hatte, von dem entfernt zu haben, was den Menschen ausmacht. Wohltätigkeit, Mitgefühl, Altruismus oder Wohlwollen wurden für ihn zu leeren, undurchdringlichen Begriffen. Er musste arrivieren, und das schnell.
    Einige Wochen später, als er sich im Spiegel betrachtete, fing er an, sich mit diesem Tod abzufinden. Da Emma tot war, würde ihn, abgesehen von ein paar Erinnerungsfetzen, die er zum Schweigen zu bringen wusste, nichts mehr an seine Vergangenheit erinnern. Da war niemand mehr, der ihn eines Tages an einer Straßenecke überraschen konnte, um ihn mit diesem Lebensabschnitt zu konfrontieren, den er aus seinem Gedächtnis streichen wollte. Er beschloss, in Emmas Tod ein günstiges Zeichen für sein Vorankommen zu sehen: Er war nun von allen Hindernissen befreit. So bat er den Comte d’Annovres, ihn in neue Kreise einzuführen. Der Mann erkannte darin zu Recht die Ambition seines Liebhabers und beeilte sich, seinen Erwartungen zu entsprechen, zu vernarrt, um in seinen Machenschaften die Anfänge einer Emanzipierung zu erkennen. Als Erstes frequentierte Gaspard jene, die er bei den d’Annovres kennengelernt hatte, wurde im selben Monat Stammgast bei den Lecats, Saurels, Lindons und Merlots. Seine Wochen erforderten eine völlig neue Organisation. Er musste überall zugleich sein, blieb keinen einzigen Abend mehr zu Hause. Der Comte d’Annovres beobachtete dieses Ausgehen hin und her gerissen zwischen Zufriedenheit und Sorge. Sie sahen sich immer

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