Die Erziehung - Roman
ihm ein Zeichen hineinzugehen. »Gib mir Bescheid, wenn du fertig bist, sie muss sich ausruhen. Das Zimmer daneben«, fügte sie hinzu. Sie verschwand. Gaspard zögerte, nicht sicher, ob er den Sinn ihrer Worte erfasst hatte. Endlich drückte er auf den Türgriff und trat ein. Ein unerträglicher Geruch zwang ihn, die Hand auf die Nase zu legen. Auf dem Bett lag Emma. Er erkannte sie nicht sofort. Aufgrund der roten Haare, die über das Laken fielen, begriff er, was er sah. Er wich zurück. Die Frau, die Emma war, war so mager, dass jeder Knochen die Haut zu durchstechen schien. Ein Murmeln kam über ihre Lippen. Das mit Urin befleckte Nachthemd enthüllte ihre ausgemergelten Beine. Der Stoff schaffte es nicht, das eingefallene Fleisch um die Beckenknochen zu kaschieren, und die Schenkel waren so abgemagert, dass die Beine sich durchbogen und auseinanderspreizten. Der Brustkorb ragte über den Schlund des Bauches, und die Brüste waren nur noch Hautsäcke, die über die Seiten hingen. Der Hals bog sich nach hinten, stellte die Sehnen und Adern unter dem abgezehrten Gesicht aus. Unter den Wangen zeichnete sich das Gebiss ab, das durch die Lippen hervorschimmerte. Emma bewegte sich noch, sie atmete, hechelte, zog unter Schmerzen die Luft ein. Ihre tief in den Schädel gesunkenen Augen verdrehten sich bei jedem Luftholen, während der Hals sich wölbte. Ihre Schläfen schienen wie ausgehöhlt, und Gaspard sah, wie die Adern anschwollen, ehe sie sich im Haar verloren. Die Arme bestanden nur noch aus Knochen, die mit einer schwieligen weißen Membran bedeckt waren. Einer Ohnmacht nahe ging Gaspard auf das Bett zu. Die Hände schienen in dem Laken nach einem Halt gegen den Tod zu suchen, der ihren Körper bereits in Besitz genommen hatte. Wie war es möglich, dass dieser Körper, an dessen Rundungen er sich erinnerte, hier ausgebreitet lag, verwandelt auf diesem Bett? Auf diesem Bett, auf dem er Emma nahe gewesen war? Seine Erinnerungen, während Monaten mit Füßen getreten, tauchten wieder auf. Er erinnerte sich an Emma, an eine Emma, die nichts mit dieser Sterbenden zu tun hatte, und der Schrecken packte ihn. Ihr Gesicht regte sich, die Augen, getrocknete Pflaumen in braunen Höhlen, drehten sich ihm zu. Die Augäpfel betrachteten Gaspard, der Mund versuchte zu sprechen, flüsterte ein unhörbares Wort. Die verschleimte Zunge schob sich zwischen die Zähne, versuchte die Spalten der Lippen zu befeuchten, verschwand wieder. Gaspard beobachtete sprachlos den Ausdruck von Schmerz, der von Emma ausging, diese Lust zu sprechen, die unter der Haut zum Vorschein kam. Wollte sie eine Wahrheit enthüllen? Litt sie darunter, ein Geheimnis nicht mitteilen zu können? Wollte sie ihn niederschmettern? Am ganzen Körper zitternd trat Gaspard näher, beugte sich über sie, hielt ungeschickt ein Ohr an ihre Lippen. Emma stammelte, atmete ein, wieder aus. Ihr Atem streifte Gaspards Wangen, seine Nasenflügel, er zog die Luft ein und spürte den Todesgeruch. Es war ein dichter, grausamer, widerwärtiger Geruch, der Geruch eines Körpers, der sich von innen zersetzte und mit jedem Atemzug ein wenig von seiner Verwesung entweichen ließ. Gaspard wich zurück: »Ich verstehe nicht, Emma.« Seine Stimme überschlug sich. Emma krümmte sich, stieß eine Klage aus, dann fiel sie auf das Laken zurück. Ihr Nachthemd rutschte ihr über die Schenkel, enthüllte ihr Schamhaar, das mit der Blässe ihres Körpers kontrastierte. Gaspard glaubte, er müsse zusammenbrechen angesichts der Schmach dieser Nacktheit. Dieser Körper, an den er sich geschmiegt hatte, nackt wie er, nun war er ausgedörrt, stinkend und verkrüppelt. Emma kümmerte sich nicht mehr um seinen Blick auf sie, um das Laken, das sie entblößte. Er streckte die Hand aus, um sie mit einer Geste, die er sich sanft vorstellte, zuzudecken. Emmas Hand suchte ihn, wollte ihn ergreifen, und er konnte sich nicht dazu entschließen, ihr sein Handgelenk zu überlassen. Von Schuldgefühlen und Scham ergriffen brach Gaspard am Bettrand zusammen. Emma seufzte wieder, die Hände zogen verzweifelt an dem besudelten Hemd, wanderten zum Gesicht, fuhren über die spitzen Knochen, die trockenen Lippen. Es ging eine Schönheit von ihr aus, die nichts mit der Schönheit von einst zu tun hatte, aber unleugbar war: Das Leiden in jeder Geste, die Spannung jedes Muskels schienen eine Wahrheit auszudrücken, wie sie in keiner griechischen Marmorstatue zu finden war. Gaspard fühlte sich von Emma ergriffen.
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