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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Sie berührte ihn, empörte ihn, blendete ihn durch eine Schönheit, von der er nie gedacht hätte, sie in der äußersten Abscheulichkeit zu finden. »Verzeih mir«, flüsterte er Emma zu, ohne zu wissen, wovon er sich freisprechen wollte. Er erinnerte sich an sein Versprechen, sie eines Tages tanzen zu sehen, und diese Erinnerung war so deplatziert, dass er wieder ihre Hand nehmen wollte, doch die Frau, die ihn empfangen hatte, kam herein und ging, als sie ihn neben dem Bett fand, zum Fenster, zog die Vorhänge auf und öffnete die Tür. Die Luft fegte durch das Zimmer, das Licht erfasste Emmas Haut, gab ihrer Erscheinung eine ätherische Dimension. »Hier stinkt’s nach Aas«, sagte sie. »Was hat sie?«, fragte Gaspard. »Woher soll ich das wissen, hab kein Geld, um den Doktor zu holen; sie auch nicht, hat ihr ganzes Erspartes aufgebraucht. Ist jetzt sowieso zu spät«, sagte die Frau. Sie ging auf Emma zu, legte ihr eine Hand unter die Schulter, die andere ums Becken und zog den Körper zu sich, der so leicht war wie die Überreste eines Vogels. Die Sterbende kippte zur Seite, stieß einen rohen Schrei aus, zeigte den Rücken durch das geschlitzte Nachthemd. Tumore und Abszesse bedeckten die bläuliche Haut, an den wund gelegenen Stellen schimmerten die Knochen der Wirbelsäule und der Rippen hindurch, an den Seiten lag das schwarze Fleisch offen da, kontrastierte mit dem weißen Laken. »Lassen Sie sie los«, befahl Gaspard, dem übel wurde, so sehr stießen ihn Emmas Seufzer ab. Die Frau ließ sie unsanft fallen, nahm aus einem gusseisernen Becken einen Lappen und tupfte die magere Stirn ab. »Die ist bald hinüber«, sagte sie in das erloschene Gesicht. Wieder wollte Gaspard eine Geste, eine einzige Geste tun, eine Geste der Zärtlichkeit oder des Wohlwollens, eine Geste, die bewies, dass er sie nicht vergessen hatte, die die Motive seines Besuchs zugunsten einer echten Zuneigung auslöschen würde. Aber seine Hände hingen reglos neben seinen Beinen, der Mund war leicht geöffnet. Er ging zur Tür, warf einen letzten Blick auf das, was von Emma übrig geblieben war, und machte sich davon.

VIERTER TEIL Der Fluss

I

EIN MANN
DER SALONS
    Jean Lépine, Totengräber von Beruf, zieht die Laken an sich und dreht seiner Frau den Rücken zu. Er hat ihr beigeschlafen, ohne sich die Mühe zu machen, die Strümpfe auszuziehen, wie jedes Mal, wenn die Lust so stark ist, dass er sie gleich nimmt, wenn er vom Friedhof Les Innocents nach Hause kommt. Der Stoff am Fußende des Bettes ist schwarz wie Schlamm. Bevor sie sich hinlegen, müssen sie erst das Betttuch von der Matratze reißen. Jean Lépine kratzt sich am Bein, verscheucht einen Floh. Mit dem Blick fixiert er die Kerze, die auszugehen droht. Ein schwacher Schein erleuchtet das schmuddelige Zimmer. Seine Sprösslinge auf ihren Strohsäcken in der Ecke haben mit dem Einschlafen gewartet, bis die Klagen der Mutter verstummt sind. Der Vater erinnert sich nur mit Mühe an ihre dreckverkrusteten Gesichter. Dass er zwei Söhne und eine Tochter hat, das weiß er gerade noch, und dass das bereits zu viele Mäuler sind. Ab jetzt wird er sich zurückziehen und sich in die Laken, auf den flachen Bauch oder in den weichen Hintern seiner Frau ergießen. Er ist der vagen Überzeugung, dass dieser Genuss das einzige menschliche Vergnügen ist, und fragt sich, warum diese Wonne auf der Stelle bestraft wird mit Bürden wie solchen, die in der Stille des Zimmers liegen. Manchmal trägt er seinen Lohn zu den Mädchen, denn wenn er die schwängert, hat er nichts zu fürchten, außer an der Lustseuche zu sterben. Und da ihn dieser Gedanke gleichgültig lässt, da es Jean Lépine einerlei ist, ob er lebt oder tot ist, und er sich nur ums Vögeln kümmert, fasten seine Frau und seine Kinder öfter, als ihnen bekommt. Die Kerze erlischt, der Docht glimmt. Der Rauch schlängelt sich durch die Dunkelheit, löst sich auf. Lépine denkt an nichts. Er betrachtet das Zimmer, den Geist bar jeder Hoffnung, bar jeder Enttäuschung. Die Dinge sind, wie sie sind. Und so gelangen sie in Jean Lépines Bewusstsein, ohne dass er darüber ins Grübeln gerät. Dieser Mann müsste seiner Erzeugerin dankbar sein, den Zufälligkeiten der Inzucht, denn seine tiefe und unerschütterliche Einfalt macht es ihm möglich, sogleich einzuschlafen trotz des Drecks auf seinen Armen, trotz des Ansturms der Flöhe, des gehässigen Fleisches seiner Frau an seiner Haut. Bald wird er in einen traumlosen Schlaf fallen.

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