Die Erziehung - Roman
seltener. Auf die Fragen des Alten führte Gaspard Verpflichtungen an, denen er sich unmöglich entziehen könne. »Und ich? Wenn ich Frau und Kind allein lasse, um herzukommen?«, verteidigte sich der Comte. Gaspard musterte ihn, und seine Verachtung stach wie ein Pfeil in das alte Herz: »Ich habe das Leben vor mir. Sei froh, dass du deines überhaupt noch mit jemandem teilen kannst. Wer will dich denn noch? Selbst deine Frau geht dir aus dem Weg.« D’Annovres schwieg, versuchte sich an das zu klammern, was ihm von Gaspard blieb. Aber während der Junge neben ihm stand und durch das Fenster die Straße betrachtete, sah der Comte die Unerschütterlichkeit seiner Gesichtszüge. Er verzog keine Miene. Aus seinen Worten klang nicht die geringste Gefühlsregung. Gaspard war unergründlich, er bediente sich seiner Launen den Umständen entsprechend. Bei den Intimitäten, die zwischen ihnen noch vorkamen, gab er sich nicht mehr die Mühe, seinen Hass auf den Comte, den Abscheu vor seinem Körper zu maskieren. Der Alte schwieg, betroffen über die Macht, die der Geliebte über seine Gefühle besaß. Diese Selbstherrlichkeit, an der er sich ständig stieß, war dennoch dem Verlust des Geliebten vorzuziehen. Also verschloss er die Augen vor der wachsenden Annäherung zwischen Gaspard und dem Baron Raynaud, auch wenn er sich nicht täuschen ließ, denn er kannte die Vorlieben dieses alten Junggesellen schon lange, war doch sein eigenes Verhältnis zu ihm gelegentlich über ein rein freundschaftliches hinausgegangen.
Ein Diner bei den Saurels zu Beginn des Sommers bot die Gelegenheit für ihre Begegnung. Hier versammelten sich jedes Jahr die Persönlichkeiten, die sich von der Pariser Hitze nicht vertreiben ließen. Schon Wochen zuvor sprachen die d’Annovres von den Größen, die dort anzutreffen sein würden, und entfachten damit Gaspards Begierde. Die Eifersucht der Comtesse ließ keinen Zweifel an der Notwendigkeit, dort zu erscheinen. Sie war überglücklich, dass sie eingeladen war, versicherte, bald werde sie diese Bekanntschaften zu den Stammgästen ihres eigenen Salons zählen. Dem Essen kam offenbar die Funktion eines mondänen Jahrmarktes zu, und die Comtesse freute sich schon im Vorhinein über die Beziehungen, die sie knüpfen würde.
Sie saßen im Garten, als Gaspard sich bei ihr bedankte, dass sie sich für ihn verwendet hatte. Sie gluckste vor Vergnügen, ehe sie versicherte: »Man legt eben Wert auf Ihre Anwesenheit, das ist alles!« Sie drehte ihr Gesicht dem Blau des Himmels zu, und es zog sich in Falten, als die Sonne auf Stirn und Schläfe fiel. Gaspard betrachtete dieses Profil mit Verblüffung. Er fand sie vulgär und schulmeisterlich, selbstzufrieden über ihren Beitrag zu seinem Aufstieg. Er ahnte, dass sie log und sich für ihn eingesetzt hatte. Doch statt der Dankbarkeit, die angebracht gewesen wäre, verspürte er Groll gegenüber der Comtesse. Aber bald würde diese in ihr Mieder gezwängte Frau mit ihrer Mouche über der Brust an der Reihe sein, um sein Wohlwollen zu betteln. Der Comtesse fiel ein, dass das Sonnenlicht ihren Teint röten könnte, und sie senkte den Schleier ihres Huts. »Danke«, murmelte Gaspard wider Willen. Sie tätschelte seine Hand. Er fühlte durch den Seidenhandschuh hindurch ihre schleimige Herablassung. Der Groll verging, als er sich sagte, bald könne er auf ihre Empfehlungen pfeifen. Sie würde um seine Gunst betteln, und dann würden all die getanen Gefallen, von denen nur sie beide wussten, nicht mehr zählen. Er hätte die Freiheit, sich von ihr abzuwenden und sich für ihre Aufmerksamkeiten zu rächen, ihre Art, ihn durch jede ihrer wohlwollenden Gesten daran zu erinnern, wer er wirklich war.
Dieser Gedanke wurde zur Gewissheit, als Gaspard den Empfangssaal der Saurels betrat. Die Fenster gingen zu den Gärten hinaus, die Gäste flanierten in einer von Alkoholdämpfen und raffinierten Ölen berauschten Atmosphäre auf und ab. Der Fußboden reflektierte das Licht der Lüster, als wären sie ins nachtschwarze Holz gefasst. Ab und zu drang eine Brise durch die Türen und brachte die Gehänge der Deckenleuchten zum Klirren. Ein paar Gesichter hoben sich diesem Glasglockenspiel entgegen, dessen Gesang für einen Augenblick die Feuchte der Körper vergessen ließ. Gaspard rückte seine Perücke zurecht, dankte mit einem Kopfnicken dem Diener, der ihn hereingeführt hatte, und erwiderte die Begrüßung der Hausherrin. Er musste an sein Entree bei den d’Annovres’
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