Die Erziehung - Roman
Doch eigenartig, ein Bild kriecht unter die Lider Jean Lépines. Ein Gesicht aus einem der Massengräber. Das Gesicht einer Frau, deren Überreste er am selben Nachmittag mit Kalk bestreut hat. Bereits an lethargische Gefilde gezogen, lässt der Totengräber die Erinnerung an Emma los. Über der er mit dem Rücken seiner Schaufel den Boden glatt geklopft, von der er die Kante einer wächsernen Hand verscharrt hat. Dort kann man keinen Spatenstich mehr tun, ohne einen Körper freizulegen. Er hat auf diesen Haufen gespuckt, der ohne Ende weiterwächst. Er weiß, dass er jeden Tag mehr Fleisch als Erde unter seinen Füßen hat. Hunderttausende von Körpern sind dort begraben. Gruben von zehn Metern Tiefe klaffen auf und quellen über. Hunde und Schweine finden dort ihre Nahrung. Das Niveau des Bodens hat sich über zwei Meter gehoben. Lépine hat den Nasenschleim hochgezogen, sich geschnäuzt. Er merkt nichts mehr von dem Geruch, der ihn durchdringt. Huren, Diebe, Nekrophile, öffentliche Schreiber, Anatomen, Straßenhändler, Gauner und Schaulustige treiben sich in der Gegend herum. Aus den Fenstern der anliegenden Häuser, die unsicher auf der lockeren Erde stehen, werden Nachttöpfe und Abfälle über die Friedhofsmauern auf die Massengräber gekippt. Jean Lépine hat die Erde über Emmas Körper gleichgültig festgestampft, dann ist er weggegangen. Er ist Totengräber von Beruf, und es gibt keinen Grund, dass er nachts nicht den Schlaf der Gerechten schlafen sollte.
Emma liegt im Bauch von Paris, zwischen den älteren und schändlicheren Überresten einer im Kindsbett verschiedenen Nonne und eines Schnapsbrenners, dessen Tumore nur noch Steine unter Steinen sind. In einigen Jahren wird sie in die Katakomben von Paris geschafft werden, für die bereits der Gips ausgehoben wird, zusammen mit sieben Jahrhunderten Gebeinen, was drei Jahre, zwölftausend Wagen am Tag, dreitausendfünfhundert Karren in der Nacht brauchen wird, viele Tausend Fuhren. Zur Stunde aber mischen sich ihre beim Fall in die Grube gebrochenen Glieder mit denen der anderen. Die von Insekten wimmelnde Erde dringt ihr in den Mund, schiebt sich unter die Lider, füllt die Augenhöhlen. In diesem Wirrwarr beginnt Emma ohne ihren Willen eine neue Existenz. Ihre nach hinten geworfenen, vom Kalk angefressenen Arme umschlingen andere Arme, andere Körper. Letzte Aufwallungen von Leben, die einst die Pariser Straßen bevölkert haben, ohne je ein Wort oder eine Geste aneinander zu richten. Nun kleben sie in einer unzüchtigen Umarmung ihre violetten Häute aneinander, verschachteln das Elfenbein ihrer Schädel. Aus Emmas Bauch strömt ein fruchtbarer Likör, ihr Fleisch vermischt sich mit der Erde und dem Fleisch der anderen. Es gibt in diesem Amalgam keine Grenze zwischen der Stadt und den Menschen mehr. Das Aufgebot der Würmer stürzt herbei und tut sich gütlich an dem, was der Kalk verschont hat. Man kann die Erde zittern sehen, einer Wasseroberfläche gleich, über die eine Welle geht. Paris ernährt sich von der Leichengrube, und die Haut seines Bauches spannt sich mit satter Zufriedenheit.
Am Abendhimmel treibt der Wind die Pollen der Stadt zu. Durch die Fenster dringt die laue Luft in die vermieften Behausungen. Wieder beginnt die Hitze ihre Tyrannei über die Menschen auszuüben, den Schweiß über die Rücken zu treiben, ihre Säfte auszutrocknen. Füße und Hufe stampfen, befreit von Dreck und Schnee, die Straßen fest. Sie wirbeln den Staub auf, der sich als Schatten über die Dächer erhebt, bis zum Himmel steigt und ihn in torfige Töne taucht. Schon tapeziert er die Nasen, legt sich auf die Bronchien, maskiert die Gesichter. Der Boden ist voll von braunem Nasenschleim, der sich mit Urin und Abfällen mischt, an jeder Straßenecke versucht man sein organisches Bündel loszuwerden. Die Menschen genießen die Atempause, doch erforschen sie bereits den Himmel, um hinter dem Grau den Sommer zu erahnen, den der wolkenlose Himmel ankündigt. Keiner oder fast keiner weiß vom Tod der Prostituierten, und wer sich doch an sie erinnert, erinnert sich schon nicht mehr so gut. Die Männer laufen in die Schenken an den Ufern der Seine. Die Frauen schleppen ihre schmarotzende Kinderschar durch die Straßen, mit der anderen Hand heben sie ihre Unterröcke. Die Menschheit ist in Bewegung. Sie lebt, ohne vom Tod Emmas zu wissen, die Teil der Stadt geworden ist. Von ihren jämmerlichen Existenzen gestoßen und geschoben, wird sie durch die Gedärme der
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