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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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derselben Hartnäckigkeit an die Tür, kratzte ans Holz, drückte den Griff nieder, flehte, Gaspard möge ihm öffnen, wimmerte und fluchte. Dieser vergrub den Kopf im Kissen und antwortete nicht. Auf Befehl des Barons sprach ihn Mathieu darauf an, als er ihm beim Ausziehen half: »Mein Herr wünscht, dass Sie ihm abends die Tür aufmachen.« – »Dein Herr«, antwortete Gaspard, »müsste wissen, wo der Platz eines Dieners ist.« – »Ich führe nur seine Befehle aus, Monsieur«, verteidigte sich Mathieu. Gaspard seufzte: »In diesem Fall sagen Sie ihm, dass ich nachts schlafe und mich nicht um Ränkespiele kümmere.«
    Am folgenden Morgen ließ der Baron ihm ein Schreiben zukommen. Wie gewöhnlich hatte sich die Gesellschaft im Salon zum Öffnen der Post versammelt. Jeder las in kontemplativem Schweigen seine Korrespondenz. Auf den Gesichtern wechselten sich die Ausdrücke und spannten die Anwesenden auf die Folter. Dann folgten Ausrufe, man kommentierte und zitierte oder schloss wortlos den Umschlag – was mehr als alles andere die Empfindung des Adressaten und die Bedeutung des Geschriebenen zum Ausdruck brachte –, dann zog man sich aufs Zimmer zurück, um sich an den Tisch zu setzen und zu antworten. An jenem Morgen überflog Gaspard die Blätter, ohne eine Miene zu verziehen, schnappte ein paar Wörter auf: endlich befriedigt … bekommen, was Sie wünschten … mich verachten … alles gleichgültig … ich flehe Sie an … dass ich Sie anzeige , faltete den Brief wieder zusammen. »Sie scheinen verstimmt«, sagte Madame de Clairois, die ihm gegenübersaß. Gaspard zuckte mit den Schultern. Der Baron biss auf den Lippen herum und beobachtete ihn bange. »Die Post langweilt mich gelegentlich«, antwortete Gaspard, »man erfährt nichts, was nicht ein anderer in der Vergangenheit bereits geschrieben hat«. Madame de Valny rief aus: »Na, dann sollten Sie den Briefpartner wechseln!« – »Ich werde es mir überlegen. Ihr Rat ist wertvoll«, bekannte Gaspard. Er stand auf und verließ den Raum, antwortete jedoch nicht vor dem Abend. Er rechtfertigte sich damit, es sei zu riskant, sich zu treffen, auch in der Nacht. Er habe kein Vertrauen in die Bediensteten, und Gerüchte würden sich hier wie ein Lauffeuer verbreiten. Der Baron beruhigte sich ein wenig, trug jedoch Mathieu auf, den Schlüssel der Verbindungstür zu entwenden. So verschaffte er sich mehr als zwei Wochen nach ihrer Ankunft bei der Présidente Zutritt in Gaspards Zimmer, um ihn in seinem Bett vorzufinden. Das lange Warten hatte seine Lust so sehr angeheizt, dass er sich auf ihn stürzte. »Warum schmähst du mich? Was habe ich getan, um deine Verachtung zu verdienen?«, fragte er und kroch unter das Laken. Gaspard stieß ihn erst zurück, dachte dann aber, er dürfe seine Anwesenheit bei der Présidente nicht aufs Spiel setzen. Um ein solches Risiko einzugehen, standen die Dinge nicht sicher genug. Er ließ sich küssen, und der Geruch des Fleisches, den die vergangenen Tage ausgelöscht hatten, umhüllte ihn wieder. Er wunderte sich über die Affektiertheit des Barons, über die Unterwürfigkeit, die schon der Comte d’Annovres ihm gegenüber gezeigt hatte und die Gaspards Hass noch steigerte. »Liebst du mich?«, säuselte Raynaud mit röchelnder Stimme. Als der Geliebte stumm blieb, bedrängte er ihn: »Los, sag, liebst du mich? Liebst du mich?«
    Konnte Gaspard auf einen Gönner verzichten? Er sah keine mögliche Umkehr von dem Weg, den er eingeschlagen hatte. Der Baron hatte sein Ziel erreicht, Gaspard fügte sich und ließ sich jede Nacht unterwerfen. Fortan wurde das Leben im Schloss, das er erst als Aufbruch, als Auftakt zu etwas Neuem betrachtet hatte, zu einem Betrug. Die Wunde auf seinem Bauch vernarbte in wenigen Tagen. Es war in Wahrheit nur eine Schramme, aber sie erschien Gaspard oft wie ein Vorzeichen und zugleich eine Befreiung. Sie hatte ihn gewarnt, dass sein Aufenthalt in Chartres eine Chimäre war, und ihn von der Last erlöst, die ihn von seinem eigenen Körper getrennt hatte. Eines Morgens stand Gaspard früh auf, zog sich an und irrte geistesabwesend durch die leeren Flure des Hauses. Wie benommen ging er über die Gartenwege und gelangte zu den Pferdeställen. In der animalischen Wärme der Boxen bürstete ein Stallbursche mit nacktem Oberkörper pfeifend einen Wallach. Gaspard betrachtete den Jugendlichen, ohne ein Geräusch zu machen. Er hatte eine Hand auf die Brust des Tieres gestützt, in der anderen hielt er

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