Die Erziehung - Roman
hatte. »Mathieu«, sagte Gaspard endlich, als er sich vor ihm hinsetzte, »weißt du, wer an der Jagd teilnimmt?« Der Garçon legte Gaspards Kopf nach hinten und befeuchtete seine Wangen. »Alle Herren außer dem Baron, der heute Morgen noch immer etwas müde ist.« Tatsächlich hatte er Gaspard in der Nacht nicht aufgesucht. »Sollte er nicht endlich einen Arzt rufen?«, fragte er. Die Antwort interessierte ihn so wenig, dass er eilig anfügte: »Ich meine, gestern gehört zu haben, dass wir einen neuen Gast erwarten.« Mathieu zuckte die Schultern und pinselte eine dicke Schaumschicht auf seine Wangen. »Es ist ein Edelmann, den ich nicht kenne.« Gaspard seufzte. »Könntest du dich nicht erkundigen?« – »Monsieur wird gleich seine Bekanntschaft machen.« Die Rasierklinge knisterte auf der Haut seines Halses. Gaspard betrachtete das Spiegelbild des Dieners. Er ist so gewöhnlich , dachte er. Mit seinen feisten Wangen, seinen Schweinsäuglein . Gaspard war es nicht entgangen, dass er ein Schürzenjäger war, ein Herumstreuner, der keine andere Ambition kannte als das eigene Vergnügen. Er dachte an den Stallburschen und fürchtete einen Augenblick, die beiden könnten sich einander anvertraut haben. »Eine schöne Entschuldigung! Welchen Eindruck werde ich deiner Meinung nach machen, wenn ich nicht mal seinen Namen weiß?« Der Garçon schwieg, in seine Arbeit vertieft. »Natürlich verstehst du nichts davon«, fuhr Gaspard fort. »Leute deines Ranges scheren sich nicht um Konventionen. Aber man erwartet doch wenigstens von ihnen, dass sie das tun, wofür man sie ernährt.« Für den Bruchteil einer Sekunde hob sich Mathieus Blick und begegnete im Spiegel dem von Gaspard. Gaspard glaubte seine Gedanken zu erraten. Er verachtet mich , dachte er empört. Er betrachtet mich als Emporkömmling! Er, der nichts anderes im Kopf hat, als den Köchinnen unter den Rock zu greifen, nimmt sich wichtig! Er urteilt über mich! Die Bewegungen der Rasierklinge schienen im Zimmer widerzuhallen. Gaspard verdächtigte den Garçon, er könne ihm plötzlich die Kehle durchschneiden, um sich für die Erniedrigung zu rächen oder um seine Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Es war ihm zuwider, sich um Gaspard zu kümmern, selbst auf Befehl Raynauds. Dabei erkaufte man sein Stillschweigen und seine Ergebenheit mit einigen Privilegien. »Nimmst du dich wichtig?«, fragte Gaspard zornig. Die Bewegung auf seiner Wange brach ab. Mathieu, dessen Feindseligkeit er zu durchschauen meinte, war durch die Frage aus der Fassung gebracht. Mit einem Mal ganz bleich geworden stammelte er: »Nein, Monsieur, ich …« Gaspard näherte sich dem Spiegel, um die Rasur zu überprüfen. »Hier«, sagte er und zeigte auf ein paar Stoppeln auf seinem Hals, ehe er sich wieder setzte. Mathieu setzte die Arbeit fort. Gaspard war zufrieden, dass er ihn erschreckt hatte. Er konnte nicht tolerieren, dass der Garçon eine solche Selbstsicherheit an den Tag legte. Was sollte er denn den anderen erzählen? Glaubte Raynaud wirklich, dass dieser Tölpel Schweigen bewahren würde? Welcher Tratsch und welche Spötteleien konnten ans Ohr der Présidente oder anderer Gäste gelangen, seine Absichten vereiteln und den Zweifel über seine Beziehungen streuen, die er mit so viel Beharrlichkeit aufgebaut hatte? Gaspard entging die Gefahr nicht, die von Mathieu ausging. »Mathieu«, sagte er, »du weißt, dass es für mich ein Kinderspiel wäre, dich zu entlassen.« Der Diener erstarrte. Gaspard riss ihm das Tuch aus den Händen, wischte sich das Gesicht, betrachtete die Macht und die Sicherheit, die sein Spiegelbild ausstrahlte. Da er keine Antwort erhielt, stand er auf. Ihre Gesichter berührten sich beinahe. Bei der kleinsten Kopfbewegung hätten sich ihre Lippen gestreift. »Ich brauche nur mit den Fingern zu schnippen, und du befindest dich wieder auf den Straßen von Paris oder auf dem Land, wo du herkommst. Los, antworte mir, mein Junge.« Mathieu biss sich auf die Zähne. Seine Lippen waren blutleer, sein Gesicht lief rot an, unter der Haut spannte sich die Halsschlagader. »Ja, Monsieur«, stieß er schließlich hervor. Gaspard gab sich versöhnlich und tätschelte seine fiebrige Wange. »Gut«, folgerte er. Er zog das Nachthemd aus und legte es aufs Bett. »Worauf wartest du, kleide mich an«, sagte er, als er nackt war. Mathieus Blick richtete sich bestürzt auf seinen Bauch, und Gaspard fiel die Verletzung ein. Er hatte sie ganz vergessen, als wäre die Wunde
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