Die Erziehung - Roman
die Folge einer Unachtsamkeit gewesen und über Nacht verschwunden. Er senkte den Blick und sah sie, in seine Haut eingeritzt, betrachtete sie ebenfalls verblüfft.
Der Schnitt war nicht so tief wie in seiner Erinnerung. Er zog sich an der Spur der ersten entlang, das geronnene Blut hatte quer über seinem Unterleib eine Kruste hinterlassen. Die Linie aber wirkte zu sorgfältig, um an ein Missgeschick zu denken. Gaspard betrachtete den Kontrast der Schuppen auf seiner Haut; es empörte ihn, dass Mathieu die Wunde sah. Nicht einmal Raynaud kannte sie, Gaspard hatte sie geschickt verborgen. Die Fassungslosigkeit des Kammerdieners, dessen Augen sich nicht mehr von seinem nackten Körper lösten, wurde inakzeptabel. Wer war er, um so zu schauen, seinen Körper so unverhohlen zu mustern? »Was gaffst du?« Erinnerte sich Mathieu an das Nachthemd mit den braunen Flecken und an die Binde, die er von ihm verlangt hatte? »Nichts, Monsieur. Wünscht Monsieur, dass ich einen Arzt hole?« Diese Anspielung auf die Wunde, auch wenn er sie nicht direkt erwähnte, reizte Gaspard. Wut packte ihn. Er schlug mit der Faust auf den Toilettentisch und zischte zwischen den Zähnen hervor: »Verlass diesen Raum!« Mathieu ließ es sich nicht zweimal sagen und stürzte hinaus. Er schloss die Tür hinter sich und ließ Gaspard im warmen Morgenlicht zurück.
Er setzte sich auf den Bettrand und versuchte sich zu beruhigen. Der Garçon würde den Mund halten, die Drohungen ihre Wirkung zeigen. Gaspard sagte sich, dass Mathieu nichts gewinnen würde, wenn er sich Raynaud anvertraute. Was seinen Bauch betraf, so hätte er sich die Wunde jederzeit aus Versehen zuziehen können. Entsprach das nicht im Übrigen den Tatsachen? Ein Augenblick der Unachtsamkeit, eine falsche Bewegung, mit einem Wort nichts, das nicht auch einem anderen hätte passieren können. Gaspard strich sich über den Bauch, seine Handfläche schmiegte sich in die Mulde an seiner Seite. Die Zärtlichkeit beruhigte das Kribbeln der Wunde, bestätigte ihr Vorhandensein. Sie war nicht das Ergebnis seiner Einbildungskraft, hatte sich den Augen eines anderen offenbart. Doch der Schnitt gehörte ihm, war Sache seiner Intimität. Gaspard fühlte sich durch Mathieus Eindringen beschmutzt. Er überlegte, ob er Raynaud bitten sollte, sich von ihm zu trennen, einen Diebstahl oder eine Unhöflichkeit vorschützend. Der Baron hatte Zuneigung zu seinem Diener gefasst, aber es wäre nicht schwer, ihn zu überzeugen. Zwischen der Liebe eines Mannes und der Treue eines Hundes fällt die Wahl nicht schwer , dachte er. Der Baron hörte immer mehr auf ihn, und seine Vernarrtheit gab Anlass zu der Hoffnung, dass er sich in Zukunft ein paar Launen leisten konnte. Gaspard beschloss, das Ärgernis zu vergessen, und machte sich für die Jagd zurecht. In seinem Zorn hatte er allzu lebhaft auf die Tür gezeigt, und die Wunde nässte wieder. Er legte mehrere Schichten Verband um seine Taille. Die Gäste der Présidente würden ihn von seinem Ärger ablenken. Ja , sagte sich Gaspard, der Tag scheint viel versprechend .
Gaspard betrachtete sich im Jagdgewand, einem Geschenk des Comte d’Annovres. Er stand in Korrespondenz mit Adeline und der Comtesse, hatte aber von dem alten Mann keinen Brief erhalten; er ahnte, dass er in seiner Abwesenheit Trübsal blies und tausend Qualen litt beim Gedanken an Gaspards Eroberungen. Diese Vorstellung gefiel ihm. Raynaud hatte ihn abgelöst, und er fand keinen Unterschied zwischen den beiden Männern. Beide hatten dieselben Interessen: ihre Besitztümer und eine Schwäche für sein Fleisch. Nur der Profit differierte. Wenn er, wie im Augenblick, daran dachte, dass einer der zwei sich in einer Wirklichkeit befand, in der Gaspard abwesend war und überdies litt, empfand der junge Emporkömmling die Genugtuung, teilweise gerächt zu sein. In Anwesenheit des Barons vergaß er die Existenz des Comte; in den inzwischen selten gewordenen Gelegenheiten, bei denen er in Gesellschaft des Comte war, verblasste Raynaud zu einem Schemen. Gaspard kam sich kühn und verführerisch vor. Wieder führte er die Hand zum Bauch, fühlte die Wunde unter dem Druck der Finger, das Kribbeln der sich regenerierenden Haut, dann verließ er das Zimmer.
Die Flure waren früher als gewöhnlich von der Geschäftigkeit der Diener belebt. Becken mit dampfendem Wasser wurden auf die Zimmer getragen. Die schwieligen Hände und prallen Arme der Garçons entzückten ihn. Es war frisch in den Hausgängen,
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