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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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den Stein der Wände. Gaspard hatte fest geschlafen, nichts wies darauf hin, dass Etienne bei ihm gewesen war. Seine Glieder waren wie betäubt, der Hunger zog ihm den Magen zusammen. Er überlegte, ob er Mathieu wecken sollte, dann verzog er das Gesicht bei dem Gedanken, dass anstatt einer der Gäste der Présidente ein Diener bei ihm wachte. Trotz der Übelkeit wollte er seine Muskeln strecken, das Bett und das Zimmer verlassen. Gaspard setzte sich auf und erleichterte sich ins Nachtgeschirr, ein trüber Urin floss aus ihm heraus. Das Gefühl der Fremdheit stellte sich wieder ein, sobald Gaspard zu fassen suchte, was sich unter seiner Haut verbarg. Er hob sein Nachthemd, betrachtete vorsichtig den Verband auf seinem Bauch. Er vergewisserte sich, dass Mathieu schlief, und löste ihn. Die Haut kam zum Vorschein, durch ein Stück Tüll schien die Wunde. Der Einschnitt war sorgfältig gereinigt worden, bildete einen sauberen Strich an der Oberhaut. Gaspard betrachtete die feuerrote Ritze im wollüstigen Fleisch, versicherte sich, dass sie noch immer da war. Er hatte sie sich selbst zugefügt. Er zweifelte an der Geste, doch die Wunde war ein Beweis der Macht, die er noch immer über diesen Körper besaß, zumindest über seine Oberfläche. »Was verbirgt sich unter der Wunde?«, fragte er sich. Er starrte auf den Grund der Verletzung, wo die Schwellung hellen, perlmuttartigen Stellen wich, einer Ansammlung von totem Fleisch, schuppigen Ablagerungen. Gaspard empfand für diese tiefen Schichten eine sofortige Abneigung. Eine Tatsache drängte sich auf: Tief in der Höhle dieses Bauches hauste die reinste Abscheulichkeit, die Essenz seiner Verwesung. Die Wunde öffnete sich wie ein Fenster auf diese Obszönität und machte ihn hilflos. Gaspard war dem Instinkt gefolgt, den Schnitt vorzunehmen, aber was sollte er jetzt tun? Das Fleisch sich wieder schließen lassen und dieses Magma, dieses Grauen verbergen? Seine Kehle schnürte sich zu, er legte den Tüll zurück und verknüpfte das Band, bevor er unter das Laken rutschte, von Entsetzen gegenüber einem Körper erfasst, an dem sich seine Machtlosigkeit stieß.
    Die Wunde musste nicht genäht werden, doch durch die Infektion stieg das Fieber, und Gaspard musste zwei Wochen das Bett hüten. Träume und Halluzinationen wechselten sich ab. Die Gäste der Présidente lösten sich an seinem Bett ab, aber weder Raynaud noch der Comte de V. erschienen. Am Morgen kam der Arzt und riet von einer Rückkehr nach Paris ab. Dreimal täglich brachte eine Dienerin einen bitteren Aufguss, den sie Gaspard zu schlucken zwang. Einmal weigerte er sich, überzeugt, dass es ihm schon besser ging, dann musste er sich jedoch den Vorhaltungen der Présidente de Cerfeuil beugen. Wie der Arzt angeordnet hatte, wurden Aderlasse vorgenommen. Bei seiner Arbeit in der Seine hatte Gaspard Frauen gesehen, die ihre Beine in den Fluss tauchten, damit sich die Blutegel daran festbissen. Dann priesen sie die Tiere den Pariser Apothekern an. Gaspard hatte sie abends das Ufer hinaufsteigen sehen. Mit der Zeit war ihre ganze Haut von Bissen übersät, und die Säufer vom Seineufer beschimpften sie, wenn sie vorübergingen, bezeichneten sie als Pockengesichter. Auch Gaspard und Lucas hatten sich diese Ringelwürmer aus dem Fleisch gezogen, von denen manche in entspanntem Zustand die Länge eines Unterarms hatten. Aber die Tiere zogen die Kieselsteine am Seineufer, wo sie ihrer Beute auflauerten, der Tiefe des Flusses vor.
    Man ließ ein wenig Wasser in eine Badewanne laufen. Ein Apotheker kam; Gaspard streckte sich auf dem weißen Email aus. Das frische Wasser senkte das Fieber, und er starrte an den Stuck der Decke, während der Mann und sein Gehilfe mit der Pinzette die Blutegel in den Glasbehältern packten und auf seiner Brust und seinem Unterleib ansetzten. Der Speichel der Würmer machte ihren Biss schmerzlos. Bald schlängelten sie sich träge, wanden vergnüglich ihre unförmigen Körper, saugten Gaspards Blut ein, schwollen unter der Wasseroberfläche an und streichelten seine Haut. Mehr noch als der Vorgang selbst löste der Gedanke, dass diese Tiere sich von seiner Unreinheit ernährten, Gaspards Ekel aus. Ihre schwärzliche Haut ließ nichts von dem Blut durchscheinen, an dem sie sich satt fraßen. Kommt das nicht daher , überlegte Gaspard, der ihren Verrenkungen im Wasser zusah, dass der Saft, den sie trinken, die Essenz meiner eigenen Schwärze ist? Er wünschte sich, dass die Egel ihn leerten, im

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