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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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leicht in das Fleisch unter der rosaroten, flaumigen Haut zu stoßen. Dann rannte das Schwein davon, prallte an die Wand, scheuchte die Tiere hinter der Schranke auf – alle quiekten vor Schreck. Der Läufer trug eine rote Borte von der Kehle bis zum Steiß, galoppierte mit vorspringenden Flanken. Sein Kopf stieß ans Holz, seine noch blauen Augen drehten sich wie Kreisel in ihren Höhlen, erblickten schließlich den Ausgang, den der Vater versperrte. Ein Laut, eine Sirene entfloh seinem kleinen Rüssel, der die klare Luft witterte, sich dem Licht und der Hoffnung auf eine Flucht entgegenstürzte. Der Vater drückte das Tier mit breiter Hand zu Boden, eine unausweichliche Falle. Er hob es an einer Pfote hoch, ging auf Gaspard zu und nahm das Messer in die Hand, während der Läufer sich um sich selbst drehte, den Schenkelknochen ausrenkte und weiterdrehte. Diesmal fasste die Klinge das Fleisch mit Präzision, das Blut spritzte in obszönen Strahlen heraus, besudelte den Schlammboden, lief in granatroten Flecken in den weichen Torf. Das Schwein hörte auf zu quieken, gurgelte nur noch, pisste und schiss, entleerte sich auf die Erde. Als der Vater es losließ, schlug es mit einem matten Geräusch auf dem Boden auf. Die Zeit stand still. Gaspard zitterte. Sein Vater stand reglos da. Die Säue quiekten immer lauter. Sie waren rasend geworden.
    »Leck auf«, sagte der Vater in seinem Dialekt, den Gaspard verabscheute. Er zeigte mit dickem Finger auf den Boden. Gaspard rührte sich nicht. »Leck auf«, wiederholte die Stimme, ohne den Ton zu heben, während das Gesicht im Gegenlicht unkenntlich blieb, zumindest in Gaspards Erinnerung. Er unterdrückte einen Schluchzer, wusste, dass er nicht weinen durfte. Dann kniete er nieder; seine Hände versanken in der Jauche. Sein Gesicht senkte sich, seine Zunge, so rosa wie die Kehle des Schweins, tauchte zwischen seinen Lippen hervor, erntete mit der Spitze einen Tropfen Blut. »Leck«, wiederholte die Stimme noch einmal, doch diesmal drückte ein Fuß von hinten auf seinen Schädel, drückte sein ganzes Gesicht mit einer Kraft vorwärts, gegen die sich nicht anzukämpfen lohnte. Die Gülle und das Blut drangen in seinen kleinen Mund, breiteten sich zwischen seinen Zähnen und unter seiner Zunge aus, gelangten in die Kehle. Wie das Laken zwischen den Lippen des Albinokindes. Gaspard glaubte zu ersticken, versuchte zu schreien, doch er brachte nur ein klebriges Gurgeln heraus, das in den Chor der Schweine einstimmte. Dann war der Fuß nicht mehr da, er atmete auf. Der ganze Mund voll vom bitteren Geschmack, sodass ihm übel wurde. Er fuhr sich über das Gesicht, rang nach Luft, erbrach sich. Als er die Augen wieder zu öffnen wagte, war alles um ihn herum rot gefärbt, mit diesem Rot, das unter seine Lider gerutscht war und sein Gesicht verschmierte. Das Stalltor stand noch immer offen, der Vater war verschwunden. Nur das Tageslicht drang herein, schräg, granatrot.
    Es war eine Geistesübung, und Gaspard musste nur die Augen öffnen, um wieder die intakte Porte de Saint-Nicolas vor sich zu haben, die reale Grenze seiner Welt. Er fühlte die Bitterkeit in seinem Mund, spuckte in die Stille hinein. Endlich konnte er sich zur Seine umdrehen und sie in den Blick nehmen. Er fühlte sich von ihr gelöst, hatte den Eindruck, dass sie ihn herablassend musterte. Er beschloss, nicht mehr an ihrem Ufer zu arbeiten. Er beschloss, eine respektablere Arbeit zu suchen, die ihm ein besseres Lebensniveau ermöglichen würde. Er deutete Martin Legrands Tod als ein glückliches Vorzeichen. Schließlich war dieser Mann auch nicht als Bourgeois geboren worden. Es musste also irgendwo die Möglichkeit zum Aufstieg geben. Gaspard spürte den Eifer wieder, den er bei seiner Ankunft in Paris hatte. Er genoss dieses Gefühl und pfiff vor sich hin, ohne es zu merken. Dann schwenkte er um in Richtung Faubourg Saint-Antoine.

IV

EINE NEUE EXISTENZ
    Er träumte von Geistern, von einem roten Fluss, der sich in eine titanische Mauer stürzte. An den Ufern stapelten sich keine Holzstämme, sondern für immer zum Schweigen verurteilte Missgeburten, Gesichter von fahlen Puppen, Kalkgesichter. Der anbrechende Tag überraschte ihn in seinem verschwitzten Laken, kaum erholt von den paar Stunden Schlaf. An den Fußsohlen waren große Blasen, seine Beine fühlten sich hölzern an. Mit einer Grimasse streckte er sich. Von den Stockwerken hallten die Laufschritte der Wasserträger wider, die bereits ihre Eimer leerten.

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