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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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transportiert wurde, fiel das Gesicht bereits in sich zusammen. Die Luft brummte nur so von Insekten. Ein Wächter zu Pferd, der das Ufer entlangritt, blieb stehen, während der Körper unter einem Geleit von Gerüchen aus dem Jenseits dahinging. »Martin Legrand«, bestätigte dieser, die Beschreibung lesend, die Kleidung passte, seine Leute hatten ihm vor ein paar Stunden sein Verschwinden mitgeteilt. So haben diese menschlichen Überreste , dachte Gaspard, als er wieder in das warme Holz der Barke zurückkehrte , also einen Namen. »Martin Legrand«, wiederholte er mit lauter Stimme. »Dieser verdammte Bankrottierer hat uns einen ganzen Arbeitstag gekostet!«, stieß Lucas hervor. Doch Gaspard hörte nicht zu, war ganz gefangen genommen vom Zittern der Schiffe, die dem Meer entgegenfuhren, und vom Lärm an den Ufern. Als Gaspard die Augen schloss, verschwand das Gesicht seines Freundes in der Dunkelheit einer dicken Kapuze.
    Er fröstelte ungeachtet der Hitze, die erneut ihre Rechte einforderte und sie wieder fest im Griff hatte. Ihre Münder waren trocken, von Stirn und Achseln tropfte es. Als sie beim Pont au Change anlangten, hatten die Männer ihre Arbeit beinahe schon niedergelegt. Sie luden gerade die letzten schwarz glänzenden Holstücke auf die Karren. Der Vorarbeiter, der noch vor Ort war, nahm sie ins Gebet und weigerte sich, den Tag zu bezahlen. »Das ganze Holz ist fertig, da ist keine Arbeit mehr«, sagte er. Lucas versuchte erst zu verhandeln, doch Gaspard stieg bereits den Quai zu den Schenken hoch, und so schickte er sich an, ihn einzuholen. »Wir werden etwas anderes finden, ich habe gute Kontakte«, sagte er mit Überzeugung. Sie liefen lange durch den östlichen Teil der Stadt, und ihr Schweigen wurde vom Tumult des endenden Tages überdeckt. Der Vorort Saint-Antoine war unverändert, stoisch, schmutzig, genau wie das kleine schwarze Zimmer, in dem Gaspard untergekommen war. Er zog sich aus und seifte seinen Körper ein, um den Leichengeruch loszuwerden, der an ihm haftete wie eine zweite Haut. Inzwischen war er ebenfalls von einigen Pilzen übersät. Ein wenig erfrischt streckte er sich auf der Matratze aus, beobachtete, wie sich die Dachluke mit dem Hereinbrechen der Nacht dunkel färbte, und lauschte dem Lärm und den Stimmen von draußen. Mehrmals wurde an die Tür geklopft, doch er antwortete nicht, und schließlich schlief er ein.
    »Martin Legrand.« Seine Stimme, ein scharfer Schnitt durch die Dunkelheit des Zimmers, schreckte ihn aus dem Schlaf. Sofort dachte er: Nein, ich will nicht am Ufer bleiben. Sein Solarplexus klopfte so heftig, wie er es einst aus dem durchscheinenden Bauch eines Ferkels, gerade aus der Plazenta herausgekämpft, hatte klopfen sehen. Er stand auf und wischte sich mit dem feuchten Handrücken die Stirn. Nach kurzem Zögern streifte er sich Hemd und Hose über, verließ das Zimmer und rannte die Treppe hinunter. Die Alte aus dem dritten Stock strickte im Schein einer Kerze, das Gesicht bis in die tiefsten Falten gelb umzüngelt. Die Nacht war spürbar kühler geworden. Der Sommer zog sich endlich zurück. Gaspard sog die verdorbene Luft ein. Sein Herz wollte sich nicht beruhigen, und er fühlte jeden Schlag wie eine Welle an seine Schläfe, seinen Gaumen und seine Fingerspitzen geworfen. Er hielt sich dicht an den dunklen Mauern und kam schließlich zur Porte Saint-Antoine. Die Nächte waren gefährlich, also mischte er sich unter die zerlumpten Nachtgestalten. Die Bastille zu seiner Linken, eine wahre Kerkerstadt, hielt nur noch Gegner des Königs fest, eine Bastion seiner Allmacht. Das Gebäude schien aufmerksam die Mondsichel zu bespähen, die ein opalenes Licht auf seine Mauern warf. Gaspard ging geradeaus durch die Rue Saint-Antoine, an der Rue Royale und dem Platz mit demselben Namen vorbei, zwielichtige Orte, an denen nachts blutige Raufereien stattfanden. Manchmal konnte man am Morgen blutleere Körper sehen, deren Saft, als rubinroter Teppich auf die Straße ergossen, von den Hunden aufgeleckt wurde.
    Quimper, rubinrot: Die Mutter hatte eine Vorliebe für Geschichten, die die Fantasie ihres Sohnes mit tausend Phantomen und tausend Gorgonen bevölkerten. Einmal erzählte sie ihm von einer Frau, die behauptete, mit dem Teufel Unzucht getrieben zu haben, und die so dick war, dass man glaubte, eine überreife Feige vor sich zu haben.
    Die Frau lag in den Wehen, brüllte und stank erbärmlich. Doch als das Kind kam, wirkte die Hebamme betreten. »Was?«,

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