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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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gelassen für dieses Paris da? Hatte er wirklich das Infame dem Infamen vorgezogen? Eine leichte Brise wehte, zum ersten Mal seit Monaten, während er an der Rue Planches Mibrai vorbeiging und über die Notre-Dame-Brücke die Seine überquerte. Doch wieder weigerte sich Gaspard, in Richtung des Flusses zu sehen. Als die lauwarme Luft an sein Gesicht schlug, in sein Hemd kroch und seinen Geist belebte, schauderte er vor Vergnügen. Eines war klar, dieses Leben wollte er nicht! Hatte er etwa seine von Asche verunzierte Mutter für die Seine verlassen, die genauso finster und vernichtend war?
    Gaspard schüttelte den Kopf, beschleunigte seinen Schritt und bog – auf einmal entschlossen, dem Fluss die Stirn zu bieten – nach links in Richtung Quai de Gevres ab. Dort drängten sich die Schatten, gehetzt und misstrauisch, kaum beschienen vom Licht des Mondes, das sich auf dem Wasser spiegelte. Er ging bis zum Pont au Change, beschloss, sich unter die Menge der Herumirrenden zu mischen. Tief in der Nacht rieben sich die Körper aneinander, vermengten ihre Gerüche. In ihre Umhänge versenkt scharten sie sich raunend zusammen, ohne dass Gaspard ihre Gesichter erkennen konnte. Doch in seinem Nacken spürte er ihren Atem, Raubtieratem, Beuteatem. Da und dort hörte er Schreie, dumpfe Schläge, Abrechnungen, die bald von den Ausdünstungen des Flusses, Komplize aller Schandtaten, aufgesaugt wurden. Die Atmosphäre war gesättigt von dem scharfen Geruch nach Aas, Geheimnis, Langeweile, nassem Gras, Umherirren und Elend. Gaspard lief durch die Nacht, ohne den Fluss anzusehen, nahm aber aus den Augenwinkeln sein reptilhaftes Schillern wahr. Geisterhafte Gestalten boten ihm Gifte an, Mixturen, die Pforten zu eigentümlichen Paradiesen öffneten. Er lief am Quai de la Mégisserie entlang, die Beine schwer vom Gehen, erahnte die imposante Ile de la Cité. Die Aussicht auf seinen Tod, mit dem an einem solchen Ort durchaus zu rechnen war, bewegte ihn nicht im Geringsten. Die Gefahr schärfte seine Sinne nicht, ließ ihn gleichgültig. War er vielleicht nur zwei Fingerbreit von der Verzweiflung entfernt, die Martin Legrand getrieben hatte, von der Brücke zu springen? War er bereits in einem Zustand der Indifferenz, der seelischen Empfindungslosigkeit, die dem Suizid vorangeht? Sein Körper schien ihm fremd. Er dachte wieder an die Überreste Martin Legrands im Fluss. »Eine Hülle im besten Fall«, sagte er laut zu sich selbst. Ein Schatten wandte sich ihm jäh zu, um sich dann wieder in der Nacht aufzulösen. Was war der Sinn dieser Maskerade? Gaspard ging am Pont Neuf vorbei, weiter über den Quai de l’École und den Quai du Louvre. Zu seiner Rechten, abruptes Schwarz in der Tiefe der Nacht, ragte die Porte Saint-Nicolas auf. Er verlangsamte seinen Schritt, hielt sich eng an die Böschung. Hier, wo es besonders finster war, gab es mehr und mehr Wachtürme. Hinter ihm glitt der Fluss vorbei, er blieb stehen und schaute an der Mauer hoch. Jenseits davon konnte er den Prunk des Hôtel de Lassay erahnen. Er schloss die Augen, riss in Gedanken die Mauer nieder und entdeckte die unzähligen Laternen des Palastes. Die Fackeln keuchten, die goldenen Aureolen spiegelten sich im Kristall wider, die Vergoldungen vermehrten sich bis ins Unendliche. Die fahlgelben Wellen dieser Lichter wogten über die Tapisserien, die Seidenstoffe, das Schnitzwerk, den glänzenden Marmor. Ein gelbliches Licht erleuchtete die Salons, fiel in Kaskaden von den kostbaren Sockeln der Kerzen und Leuchter, ergoss sich über die Gesichter, die Perücken, glänzte auf den von Parfüms moirierten Kehlen. Der Rauch malte Kringel in die Luft, legte sich lasziv um die rauschenden Kleider, den kostbaren Samt, den Crêpe de Chine, den gemaserten Taft, den Satin und die perlenbestickte Seide. Die Stoffe knisterten auf der eingecremten Haut. Ein Glas Wein warf seinen granatfarbenen Ton auf den roten Samt.
    Quimper, granatrot: Gaspard hatte es nicht geschafft, den Läufer zu töten, wie der Vater es von ihm verlangt hatte. Er war sechs, hielt in der Hand ein Messer, das so oft benutzt worden war, dass die Farbe des Griffes unter einer dicken Kruste verschwunden war, die sich in seiner Hand rau anfühlte. In der Helligkeit der weit offenen Tür zeichnete sich die Gestalt des Vaters ab. Gaspard kniff die Augen zusammen, konnte sein Gesicht nicht erkennen, ahnte jedoch seinen zornigen Ausdruck. Er brachte gerade mal den Mut auf, das Tier zu Boden zu drücken und die Klinge

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