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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Gaspard stand auf, wollte nach den Kleidern greifen, die er für seine Arbeit im Fluss trug, doch seine Hand hielt über den Lumpen inne. Der Spaziergang am Vorabend, seine Vorsätze, die er auf Höhe der Tuilerien gefasst hatte, kamen ihm mit gestochener Präzision ins Gedächtnis zurück. Gaspard streifte ein Leinenhemd über, eine lederne Hose, eine Weste aus Serge und schwarze Strümpfe. Er strich den Stoff ein wenig glatt, versuchte den wirren Haarschopf zu bändigen, rasierte sich flüchtig. Die Klinge war stumpf. In den Schnittwunden brannte die Seife. Er wischte sich das Gesicht, ohne den Blick von seinem Spiegelbild in der Glasscherbe abzuwenden. Er hörte, dass Lucas aufwachte, drückte das Ohr an die Wand. Der Gips fiel in Schuppen von den porösen Trennwänden, und er konnte jede seiner Gesten erraten, sie voraussehen, so sehr hatte das enge Nebeneinander ihre beiden Leben zu einer einzigen Existenz verschmolzen. Die Wange streichelte die Körnung der Wand, sein Blick war auf die winzige Luke gerichtet.
    Lucas war eine vertraute, tröstliche Präsenz, auf die sich Gaspard gestützt hatte, um nicht von der Großstadt aufgefressen zu werden. Hatte er zu viel Hoffnung in ihn gesetzt? Hatte er sich Illusionen hingegeben? Konnte er sich mit dieser erbärmlichen Beziehung zufriedengeben? Gaspard schüttelte den Kopf. Plötzlich erschien ihm Lucas wie eine Gefahr, ein Hindernis für sein Leben, von dem er sich fernhalten musste. Und schnell musste es gehen, bevor er sein Zimmer verließ, an seine Tür klopfte und ihn fragte, ob er endlich fertig sei, bereit für den Fluss. Sonst würde Gaspard nicht mehr den Mut aufbringen, nein zu sagen. Jedes Verlangen danach würde wie ein Soufflé verächtlich in sich zusammenfallen, und er würde Lucas völlig gedankenlos folgen. Lucas vernichtete in ihm jede Fähigkeit zu denken, zu wünschen, mit einem Wort: seine Menschlichkeit. Gaspard fühlte einen grimmigen Hass gegen Lucas in sich aufsteigen, das Gefühl, betrogen worden zu sein. Bin ich so naiv, dass ich die Einschränkung, die seine Freundschaft mit sich gebracht hat, nicht gesehen habe? , fragte er sich mit Bitterkeit. Er empfand ein Schuldgefühl, sich selbst schamlos belogen zu haben, doch sobald es über den Zorn hinauszuwachsen drohte, unterdrückte er es und brachte es zum Schweigen. So blieb davon nicht mehr als ein flüchtiges Unbehagen. Lucas zu diffamieren, ihn mit tausend Übeln zu überschütten, Groll und Zorn aufsteigen zu lassen, die Erniedrigung seines Lebens, eine Ursache zu bestimmen, einen Schuldigen, Opfer zu sein: In dieser emotionalen Deflagration fand Gaspard Beruhigung. Es schien ganz einfach: Um diesem Elend zu entkommen, musste er Lucas aus dem Weg gehen. »Als ich dich am Ufer gesehen habe, wie du verblüfft vor diesem Treiben gestanden hast, wusste ich, dass du etwas suchst. Du warst mir gleich sympathisch«, hatte er zu Gaspard gesagt, um sich zu rechtfertigen, dass er ihm an jenem Sommertag die Hand gereicht hatte. Mit etwas Abstand wirkte es, als hätte Lucas ihn damals gepackt, um ihn mit in den Abgrund zu reißen. Lucas verkörperte, wie die Ufervölker, die Beständigkeit des Flusses. Er hatte versucht, ihn ebenso im Wasser zu ertränken. Gaspard überzeugte sich selbst davon, betrogen worden zu sein. Das Zimmer um ihn herum war schäbig wie noch nie. Er suchte nach ein paar Gegenständen, die er mitnehmen könnte, doch alles, was da war, gehörte hierher, war von Nichts behaftet. Er konnte sich nicht entschließen, unter diesen nichtigen Sachen zu wählen. Er dachte, er könnte seine Hemden verkaufen, eine silberne Gabel, die er im Fluss gefunden hatte, ein kleines Medaillon, eine Tabakdose. Doch dieses Geld wäre genauso verdorben wie der ganze Rest, genauso aus der Seine hervorgegangen, von diesem Leben beeinflusst. Er wickelte die Gegenstände in ein Laken, legte das Geld für die Miete auf den kleinen Tisch. Er bemerkte, dass der Ring auf dem Boden, die einzige Erinnerung an den früheren Mieter, noch immer zu sehen war, scharf abgegrenzt. Er hatte ihn so oft gesehen, dass er sein Vorhandensein vergessen hatte, aber nun stellte er fest, dass er nicht verblasst war. Gaspard hätte gedacht, dass er kleiner geworden wäre, sich zusammengezogen hätte. Doch er hatte sich ausgebreitet wie ein Moos, das über den verwurmten Holzboden wuchs. Seufzend verließ er das Zimmer, durchquerte den Flur, ohne dass die Bretter knarrten, und legte das verknotete Bündel vor Lucas’ Tür. Dann

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