Die Erziehung - Roman
schlich er leise die Treppe hinunter.
Die Außenluft vertrieb die Gerüche des Gebäudes aus seinen Lungen. Es nieselte über der Insektenstadt, die wimmelnd aus der nächtlichen Lähmung erwachte. Ein kleines Mädchen verkaufte auf dem nackten Boden Obst. Gaspard blieb vor ihm stehen. Es betrachtete ihn mit einem schiefen Blick aus einem ebenso schiefen Gesicht. Der Schädel zog sich auf Augenhöhe zusammen, als hätte die Mutter, die am Boden eingeschlafen war, versucht, das Kind in ihrem Bauch zurückzuhalten. Gaspard hegte instinktiv eine heftige Verachtung für diese Frau, die wie eine Larve zwischen den Beinen ihrer Tochter zusammengerollt war. Er streckte dem Kind eine Münze entgegen, ergriff einen Apfel, biss hinein und ging weiter die Straße hoch. Der Saft der Frucht war herb. Das Fleisch war von Flecken übersät, das Gehäuse säuerlich, aber Gaspard hatte Hunger. Er verschlang sie. Er wusste nicht, welchen Weg er einschlagen sollte, dann sagte er sich, dass er noch nie den Fluss überquert hatte, nie am anderen Ufer gewesen war. Er fragte sich, wie es möglich war, dass ihm nie der Gedanke gekommen war, über die Seine zu gehen, in der er doch jeden Tag arbeitete und von der aus er die andere Seite der Stadt sehen konnte. Nie zuvor hatte ihn eine solche Lust gepackt, eine ihrer Brücken zu passieren. Lucas hatte ihm mit seinem Freundschaftseifer, seiner ständigen Inanspruchnahme und der beharrlichen Präsenz keinen Raum gelassen, der ihm erlaubt hätte, sich selbst zu behaupten. Hätte Gaspard, als er das linke Ufer entlangirrte, als er den Faubourg Saint-Antoine verließ, seine Seele gründlich erforscht – ein kaum zu bewältigendes Unterfangen bei den Labyrinthen, die sie enthielt –, hätte er verstanden, dass dieser Gedanke in ihm keinerlei Wunsch wachrief. Doch wenig mit dem Begriff von Wünschen vertraut hielt er es für ein tiefes Bedürfnis, das andere Ufer zu erreichen. Er pfiff vor sich hin, zufrieden mit seiner Eingebung, überzeugt, scharfsichtig zu handeln. Dort drüben finde ich Handwerker, die sich mit der Bourgeoisie auskennen , sagte er sich, und sein Schritt wurde energischer. Dieser Gedanke, der aus dem ersten hervorging, begeisterte ihn. Logischer wäre gewesen, zuerst zu überlegen, wo er am wahrscheinlichsten eine Arbeit finden würde, bevor er sich entschloss, dorthin zu gehen. Doch Gaspard entdeckte gerade erst die Möglichkeit, über den Weg einer Argumentation zu einer Entscheidung zu gelangen. Sein leicht fiebriger Zustand erinnerte ihn an seine Ankunft in Paris. Er dachte an Quimper, das jetzt so weit zurücklag und doch, als verborgenes Universum, noch immer vorhanden war, eine Abstraktion, aus der vielleicht alles, sogar der Fluss selbst, hervorging.
Drei Polizeioffiziere weckten einen Blinden, der unter einem Bretterhaufen schlief. Sie zogen ihn aus seinem Unterschlupf, um ihn ins Gefängnis Petit Châtelet zu bringen, wo die kleinen Gauner, Obdachlosen und armen Schlucker auf engem Raum zusammengepfercht wurden. Als sich die Augenlider, faltige Vorhänge im aschgrauen Gesicht, hoben, stürzte sich die Sonne in seine milchigen Augen. Bald würden die Läden aufmachen. Die Händler fegten den Boden, wirbelten eine Staubwolke auf, die zum Sturm auf die Straße ansetzte. Die Hungersnot griff um sich, was Gaspard nur bruchstückhaft ins Bewusstsein drang. Auf den Regalen gingen die Lebensmittel aus, das Brot war teuer. Eine schmuddelige Bäckerei spie den Hefegeruch auf die Straße. Drinnen schwitzte ein Mann mit Menschenfressergesicht vor einem Backofen, während seine Frau, einem Ghul gleich, die Hände auf ihre breiten Hüften gestützt, mit den Blicken die Straße absuchte. Gaspard tastete seine Taschen ab. Er musste sparsam mit dem Geld umgehen, doch der Duft des warmen Brotes war eine Qual, sein Bauch zog sich zusammen. Die Bäckerin warf ihm einen vernichtenden Blick zu, was ihn davon abhielt, um ein Stück hartes Brot zu verhandeln, das oft etwas billiger verkauft wurde. Er verzog sich, hielt den Atem an, um nicht länger diesem verführerischen Geruchsansturm ausgesetzt zu sein. Bald hörten seine Eingeweide auf, sich zu verkrampfen, spannten sich erwartungsvoll, Raubtiere auf der Lauer nach Nahrung. Der Hunger war allgegenwärtig, Gaspard lebte damit, und die Sattheit war nur eine nebulöse Erinnerung an Quimper, wenn der Vater eins der Schweine für die Familie schlachtete. An diesem Morgen, als er einem besseren Leben entgegenzugehen glaubte, machte ihn der
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