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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Grafen lag eine Art lässiger Eleganz, eine merkliche Sanftheit.
    Beim Betrachten dieses Körpers spürte Gaspard, wie ein Schauder durch seine Glieder lief, das Rückgrat emporglitt und sich über den Haarboden ausbreitete. Der Graf brachte ihn ganz offensichtlich aus der Ruhe, regte seine Sinne an, weckte in ihm den dringenden Wunsch, mehr über ihn zu erfahren. Es ging ein besonderes Charisma von diesem Mann aus, wie er es von den übrigen Kunden in der Werkstatt nicht kannte. »Haben Sie schon gehört«, sagte Billod, während er seine Modelle auspackte, »dass Madame de Saint-Fons seit gestern Witwe ist? Man weiß nicht einmal, woran ihr Mann gestorben ist. Eine Tragödie, die Ärmste kommt kaum darüber hinweg.« Der Graf lachte laut auf: »Na, na, Billod, verschonen Sie mich mit Ihrer Betrübnis. Es ist kein Geheimnis, dass Madame de Saint-Fons sich freuen kann, ein reiner Glücksfall für sie. Ihr Mann war nichts anderes als ein Rohling, und ein Säufer obendrein. Er hat sie ständig geschlagen, ihr zweimal sämtliche Knochen gebrochen. Es fällt mir gar nicht ein, sie zu beklagen, so hören Sie doch auf, sie zu bemitleiden, sowohl sie als auch ihn. Bestimmt ist sie nicht unschuldig an dem Unglück, das gar keins ist.« Das war zu viel, Billod taumelte, schnappte nach Luft, doch innerlich frohlockte er auch. Er betrachtete den Grafen mit einer von Schrecken durchwachsenen Bewunderung. Der Lehrling wunderte sich, dass man in seiner Anwesenheit so offen sprach, doch da fiel ihm ein, dass seine Person von keinerlei Interesse war. Diese Verachtung verletzte ihn, und da sie von einem Mann wie dem Comte de V. kam, löste sie in ihm die Sehnsucht aus zu gefallen, ein Wunsch nach Beachtung, gemischt mit einer obskuren Erregung, die ihn verwirrte. Er hoffte, mehr über diesen Mann zu erfahren, wurde sich bewusst, dass er ihm an den Lippen hing, jedem seiner Sätze auflauerte auf der Suche nach einer Resonanz, jeder seiner Gesten, die etwas von diesem Geheimnis preisgeben könnten. Diese Autorität, die unmittelbar vom Grafen ausging, als hätte er einen Anspruch auf das Atelier, war schwindelerregend. Später an diesem Abend, wenn Gaspard im Keller liegen und keinen Schlaf finden, über die Wirkung nachdenken würde, die diese Begegnung hinterlassen hatte, würde es ihm gelingen, seine Einschätzung des Mannes in einem Vergleich aufzuschlüsseln, der auf einmal offenkundig schien. Der Anblick des Grafen hatte eine tiefe Begierde in ihm geweckt, die noch vom Klang seiner Stimme verstärkt wurde. Für Gaspard war diese Anziehungskraft mit der hypnotischen Faszination verwandt, die der Fluss erzeugte. Etwas in dieser Metaphysik sagte ihm, er müsse den Grafen meiden, doch forderte zugleich noch lauter seine Anwesenheit. So betörend Etienne de V. war, sein Ruf war der der Leere. Gaspard würde sich daran erinnern, wie er sich von der Brücke stürzen wollte, um in den Tiefen des Flusses zu versinken. Ein ähnliches Phänomen trieb ihn dem Comte de V. in die Arme.
    »Gut, mein Freund, nicht nötig, diesen ganzen Plunder für mich auszubreiten. Ich nehme die da. Sie passt doch bestens, meinen Sie nicht, junger Mann?« Er betrachtete sich im Spiegel, den Billod ihm entgegenhielt, und hatte Gaspard den Rücken zugedreht. Aber er beobachtete ihn im Glas. Die Perücke umgab sein Gesicht wie ein Heiligenschein, machte die Tiefe seiner Augen noch tiefer, die nüchterne Sanftheit seiner Haut noch sanfter. Gaspard fiel keine Antwort ein. »Ich nehme dieses Schweigen für ein Ja, die Ansicht von Monsieur Billod wird zwangsläufig eigennütziger sein als die Ihre.« Gaspard, das Gesicht von tausend Nadelstichen durchbohrt, senkte wieder die Augen. Der Graf bezahlte. Billod wickelte redselig die Perücke ein, dachte gar nicht mehr daran, seinem Lehrling, der die Aufmerksamkeit schon viel zu sehr auf sich gezogen hatte, eine Aufgabe anzuvertrauen.
    Als der Kunde gegangen war, schwiegen sie eine Weile, ehe Billod das Wort ergriff. Als er Gaspard alles enthüllt hatte, was er über den Ruf des Comte de V. wusste oder zu wissen glaubte, nahm der Schüler im Schweigen des Meisters eine spürbare Verzückung wahr, und er beneidete ihn. Der Tag nahm seinen Lauf, doch Gaspard wurde den Eindruck nicht los, den der Besuch des Grafen hinterlassen hatte. Es war unmöglich, sich auf die anderen Kunden zu konzentrieren. Mehrmals beklagte Billod sich über seine Schusseligkeit, seine Undiszipliniertheit, seine zum Himmel schreienden Fehler. Doch

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