Die Erziehung - Roman
presste sich in die Blech- und Holzverschläge, eine Prozession von Parasiten, die unter den Krusten von Paris wuselten. Die Stadt war ganz offensichtlich in Bewegung. Sie brachte eine neue Version ihrer selbst hervor. Die Bevölkerung musste sich dieser Urzeugung beugen, ihre jämmerliche Existenz anpassen. In diesem Wochenbett kamen da und dort die unheilvollen Züge des Menschen ans Licht. Denn in dieser wie in jeder anderen Zeit genügte ihm die geringste Abweichung, die dünnste Bresche, die winzigste Veränderung als Vorwand für seine Missetaten.
Ein Kind war vergewaltigt worden. Am dritten Regentag befand sich Mathieu Goncelin, Stellmachermeister aus dem Marais, allein in seinem Zimmer unter dem Dach und ertrug es nicht mehr länger, den Regen auf seine Mansarde trommeln zu hören. Es schien ihm, dort, wo er saß, auf dem zerschlissenen Gestell eines alten Sessels, als ließe der Himmel einen unaufhörlichen Sturzbach auf seinen Kopf niederprasseln. Das Hämmern hinderte ihn, den Schlaf zu finden, hallte in seinem Schädel wider, dröhnte durch jedes einzelne Glied, bis es betäubt war, löste eine stechende Migräne aus. Seit dem ersten Tag dieses Regengusses brummte die Erschöpfung in ihm wie ein übergroßes Insekt, verwandelte das Klopfen der Tropfen in das Schlagen von Deckflügeln, entstellte die Wirklichkeit im Raum. Alles zitterte unter dem stampfenden Regen, der zwischen den Ziegeln hindurchglitt und mit hässlichem Plätschern auf den Boden schlug. Zunächst hatte er versucht, das Wasser in Blechbottichen aufzufangen, doch der Lärm wurde noch stärker, erst metallisch, pling-pling, dann, als der Grund des Behälters bedeckt war, wässerig, plup-plup. Jeder Tropfen löste, wenn er mit der Flüssigkeit in Berührung kam, einen zweiten aus. Der erste fiel von der Decke, versank im Bottich und warf beim Aufprall für den Bruchteil einer Sekunde einen anderen in die Luft, wenige Millimeter nur. Zwei Plup also, zählte Goncelin erbittert. Doch mit der Zeit gelang es ihm nicht mehr, die Zahl der Aufschläge genau auseinanderzuhalten, er überhörte manche, bildete sich andere ein. Die Tropfen paarten, vervielfachten sich, fielen in den Raum ein, mehrten den Schmerz, der seinen Schädel durchbohrte. Er beherbergte einen Wurm, eine Larve, die sich durch das gallertartige Geflecht seines Hirns wand, um sich herauszukämpfen. Sein Trommelfell schlug den Takt, das ganze Innenohr war erfüllt von diesem Krach. Sich den Gehörgang mit Heu zu verstopfen, bis es schmerzte, hatte zu nichts geführt. Das Wasser bahnte sich tosend seine Wege. Die Gefäße liefen über. Der angesammelte Regen schwoll auf der Oberfläche an, wölbte sich erwartungsvoll. Und dann brach ein Tropfen die Vollkommenheit dieses durchsichtigen Bauches, schlug hinein in die Masse und ließ die Flüssigkeit über den Rand schwappen. Der Holzboden färbte sich dunkel. Die Hände auf die Ohren gepresst schaute Goncelin zu. So beharrlich wie das Wasser sich auf dem Boden ausbreitete, wuchs ein Schatten, nahm in seiner Magengrube eine verzehrende Form Gestalt an. Ein allzu bekanntes, bis dahin in Schranken gehaltenes Phantom, eine finstere Begierde, von Ekel, Schaudern und willkürlichem Zittern begleitet. Eine Welle, eine Flut der Lüsternheit, ein vom Regen genährtes Brodeln überwältigte ihn, brandete durch seinen Rumpf, stachelte seinen Geist auf, lenkte ihn einem einzigen Ziel zu. Mathieu Goncelin versuchte diesen Ruf zum Schweigen zu bringen, doch was zunächst ein unterschwelliger Strom, ein Geist seiner selbst gewesen war, wurde nun ein Ganzes, durch das er existierte, das ihn der Erfüllung zustreben ließ. Er bestand einzig noch aus diesem bohrenden Reiz. Und als der bröckelnde Gips der Decke sich stückweise zu lösen begann, sprang Goncelin mit einem Satz auf, verließ das durch drei Tage Apathie verpestete Zimmer, stürzte die Treppe hinunter und ins Freie, schleppte sich durch den Dreck, fiel zu Boden, ging mit klopfendem Herzen und teigigem Mund durch die Straßen, streunte wie ein Raubtier mit geschärftem Sinn umher. Der Regen tropfte nun auf ihn, klatschte die Haare auf seine tierische Fratze, lief in Rinnsalen über seinen roten, angespannten Hals, zwang ihn, die Lider über den schwarzen Augen zu schließen. An einer Straßenecke blieb er stehen. Der Himmel erschütterte Paris mit seinem Krach. Schließlich legte sich Mathieu Goncelins Blick auf das Objekt, zu dem ihn seine Gier geführt hatte. Er erforschte seinen Geist,
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