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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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die sarkastischen Bemerkungen des Meisters glitten an seinem Schüler ab, der ganz in seine Gedanken versunken war. Warum , so fragte er sich, löst ein Mann wie der Comte de V. in mir diese Unruhe aus? Er kannte die Gründe nicht, als er versuchte, den Ursprung dafür zu finden, blieb das Gefühl flüchtig und gespenstig und doch unleugbar präsent. Erst am Abend in Gesellschaft der Ratten bekam er den Widerhall dieser Begegnung zu fassen. Und erzitterte in der Dunkelheit des Kellers.
    Der Oktober befreite Paris von seiner Schwüle und ließ einen Sturzregen niedergehen. An den paar Tagen, an denen ein frischer Wind durch die Straßen fegte, schien die ganze Stadt vor Erleichterung aufzuatmen. Auf das Aufatmen folgte ein Warten. Paris hob den Blick zum Himmel, an dem sich schwarze Haufen zu einer erdrückenden Stele zusammenballten. Die Luft knisterte, klebte auf der Haut und überraschte mitten in der Nacht durch ihre Feuchtigkeit. Sie legte sich auf die Brust, löste Angst und Beklemmung aus. Dann riss der Himmel mit einem ohrenbetäubenden Krach auf, ließ grelle Wunden aufflackern, heulte in bestialischer Wut, ein Schrei von tausend Ungeheuern. Der Regen fiel, prasselte hemmungslos auf den Boden, die Mauern, die Dächer, die Stadt. Paris, das der Sommer ausgedörrt hatte wie das Geschlecht einer alten Frau, floss über von diesem so reichlich verschütteten Saft, vermochte die Lymphe nicht aufzunehmen. Zunächst frohlockte die Stadt, saugte sich voll, doch bestraft für ihre Gier, schnappte sie bald nach Luft, drohte zu ertrinken, würgte und spuckte Sturzbäche von Dreck aus, der die Melasse der Stadt mit sich führte, die Rülpser erstickend, die aus den Kloaken durch die Rinnsteine tönten. Es wurde unmöglich, eine Straße zu überqueren, ohne sich von Kopf bis Fuß mit diesem Gebräu zu verdrecken. Die Kutschen versanken im Schlamm. Das Fell der Pferde verschwand unter einer dicken Kruste. Die Kleider erstarrten zu einer Zwangsjacke aus Lehm, die Gesichter verschwanden hinter einem schwärzlichen Gangrän. Ein neuer Geruch stieg aus diesem Stadtbild auf, eine Variante zum sommerlichen Gestank: die Ausdünstungen der Erde. Namenlose Pestilenz setzte dem abgebrühtesten Geruchssinn zu. Auf den Straßen spielte sich ein chaotisches Leben ab, das in aller Eile der erbarmungslosen Verwandlung der Stadt angepasst wurde. Die Menge drückte sich eng an die Mauern, um den Fontänen auszuweichen, die von den vorbeipreschenden Kutschen in alle Richtungen spritzten. Beim Überqueren der Straßen musste man die Wachsamkeit verdoppeln, geschickt über die Pfützen hinwegspringen, jede der gewalttätig gewordenen Bewegungen vorausahnen, die Instabilität des Bodens mit einberechnen, der sich unter dem Füßen davonstahl und den Körper unter die Hufe des nächsten Pferdes zu befördern suchte.
    Die Grausamkeit der Stadt weckte die der Menschen. Der betäubenden Erstarrung des Sommers entrissen erwachten die niedrigen Instinkte. Wollte man den Winter überleben, musste das Animalische über das Menschliche die Oberhand gewinnen, und schon war die Bereitschaft zum Kampf auf sämtlichen Gesichtern zu lesen. Der Schlamm setzte sich auf der Haut ab, wuchs in die Häuser hinein. Bald würden die ersten Epidemien ihre Todesfälle fordern. Die Grippe würde die Körper, die sich im Fieber wanden, dahinraffen, Alte und Kinder. Die Bronchitis würde die Lungen mit Schleim anfüllen, die Säuglinge ersticken, die man am Morgen blau und kalt, erstarrt in ihren Windeln, wie schwarze Johannisbeeren pflücken konnte. Die Kälte würde ihre Lippen zerfressen, die Augen, die Häute. Bei manchen würde die Brandwunde des Winters ganze Glieder angreifen, das Fleisch abtöten, das in bläulichen Rissen aufplatzte, seinen Ausfluss zu gelblichen Kaskaden, Eiterstalaktiten, erstarren lassen, sodass einzig die Amputation übrig bliebe. Jeder hatte die Strenge der vergangenen Winter vor Augen, und man sah über die Befreiung, die dieser erste Regen brachte, das kommende Leid voraus. Die Pariser gingen mit größerer Wachsamkeit durch die Straßen, mit einer Sinnesschärfe, die sich auf den angespannten Gesichtern zeigte. Die Ladendiebstähle häuften sich. Die Straßen stanken nach Suppen, Gebräuen, deren einziger Zweck darin lag, die Körper für kurze Zeit ein kleines bisschen aufzuwärmen. Die Nacht warf ihre Schatten in die Häuser. Die Fenster dichteten das Innere ab, das nach Feuchtigkeit und Laster roch. Die Masse der Stadtstreicher

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