Die Erziehung - Roman
Tagen nichts Besseres anzufangen wusste, als sich neue Waren anzuschaffen, die sie ein bisschen von ihrer permanenten Langeweile ablenkten. Noch viele andere gingen im Atelier ein und aus, und Gaspard lernte sie nach und nach kennen. Jeder brachte seine Geschichten mit, seine Andeutungen, seine gut gehüteten Geheimnisse, die man bereitwillig weitergab, nachdem man sich erst ein wenig hatte bitten lassen. Billod genoss diese Geständnisse, schwor unaufhaltsam, nichts weiterzusagen, um, meist auf subtiles Drängen der Kundin, auch ihr ein Schweigegelübde abzunehmen, das sie ablegte, nicht ohne sich beleidigt darüber zu zeigen, dass man an ihrem Versprechen zu zweifeln wagte. Wenn sie dann erfuhren, dass keiner von beiden Wort gehalten hatte, beschimpften sie einander höflich, ebenso oft sagten sie gar nichts. Das war der natürliche Lauf der Dinge, eine Abfolge von Beglückwünschungen, von übertriebenen Höflichkeiten, unverschämten Vertraulichkeiten, von Neugierde und Versprechungen im Überfluss. »Das, mein Junge, ist die Seele des Krieges, der Kern des Geschäfts, sogar der Sinn unserer Arbeit, vergessen Sie das nicht! Die Perücken sind nur ein Vorwand für die Herzensergüsse, um die Schnattermäuler zu befriedigen. Das eigentliche Ventil für die Langeweile ist das Gespräch. Dies zu verweigern würde für unser Gewerbe den sicheren Tod bedeuten. Das gilt in diesem Atelier genauso wie überall sonst. So sind die Menschen in dieser Zeit nun mal beschaffen«, erklärte Billod eines angeheiterten Abends mit ungewöhnlich scharfem Blick. Gaspard schwieg, zog es vor, sich nicht über die Moral der Tag für Tag in der Werkstatt gehaltenen Reden zu äußern. Die Kunden übten auf ihn eine Art Faszination aus. Er war sich dessen bewusst, gab gerne zu, dass er sie beneidete, sich diesen Reichtum wünschte. Er formte ihre gesamte Persönlichkeit, alle schienen in gewisser Weise in derselben Form gegossen worden zu sein. Gaspard begehrte diesen Wohlstand, diesen Rang, der es ihnen erlaubte, nichts zu tun. Ihre Hauptbeschäftigung war, die Leere ihres Lebens durch die Salons zu füllen, durch Landpartien, prachtvolle Diners, langweilige Korrespondenzen, durch dieses unverbrüchliche Interesse am Leben der anderen, das Gieren nach Geheimnissen, die einen Schauder, eine vage Emotion auszulösen imstande waren. Gaspard erstrebte die Langeweile. Er meinte diesen apathischen Zustand, diese legitime Willenlosigkeit herbeizusehnen. Dabei wusste er nicht, auf welche Weise er an sein Ziel gelangen sollte. Er dachte in grenzenlosem Optimismus daran, sich das Wissen des Meisters anzueignen, sich in ein paar Jahren selbständig zu machen und so zu einem Vermögen zu kommen. Doch er zweifelte. Als der graugrüne, eintönige Oktober anbrach, glaubte er in der Person des Grafen Etienne de V. einen Ausweg aus seiner Situation gefunden zu haben.
II
ETIENNE DE V. UND
DIE SELTSAME FASZINATION
»Das ist ein Mann ohne jede Tugend, ohne Gewissen. Ein Libertin, ein Gotteslästerer. Er macht sich über alles lustig, setzt sich über sämtliche Konventionen hinweg, verhöhnt die Moral. Seine Sitten, heißt es, sind absolut verwerflich, seine Gewohnheiten frivol, sein Hang zu Vergnügungen grenzenlos. Er begehrt beide Geschlechter. Er ist ein verdorbener Genussmensch, ein zügelloser Schurke. Kaum zu zählen sind die Ehen, die er zerstört hat, aus purer Lust an der Verführung, am Reiz des Siegens. Er ist unzüchtig und anzüglich, ein Herumtreiber und Wüstling. Sein Ruf geht ihm voraus. Die Mütter warnen ihre Töchter, aus Angst, dass er sie vom rechten Weg abbringt. Dieser Freidenker philosophiert über seine Dekadenz und verbreitet seine sybaritischen Ansichten, verdirbt die Seelen. Weiter heißt es, er sei ein Verbrecher, ein Totschläger, ein Giftmörder, obwohl er noch nie überführt werden konnte. Man argwöhnt gar, manche Frauen hätten sich seinetwegen das Leben genommen. Erst führt er sie in die Ekstasen der Liebe, dann stößt er sie abrupt von sich, denn einzig die Lüsternheit treibt ihn. Man munkelt gar, er habe Nonnen verdorben und andere Frauen in die Orden getrieben. Er ist ein Lebemann, ein Lüstling. Er soll den Männern die Ehefrauen rauben, selbst jene, die schwören, für diese Art Vergnügen nicht empfänglich zu sein. Oh, ich sage Ihnen, man muss sich vor ihm hüten wie vor dem schlimmsten Laster.«
So würde Justin Billod seinem Lehrling den Grafen vorstellen, und dieser würde ihn fragen: »Warum ist er dann
Weitere Kostenlose Bücher