Die Erziehung - Roman
Lippen, die Wölbung seines Oberkörpers. Ein Zittern durchlief Gaspards Glieder, als er sich diese Einzelheiten in Erinnerung rief. Ähnlich wie das Gefühl, das ihn vor den Gittern des Palais du Luxembourg überkommen hatte, zog es seinen Magen zusammen und strahlte in seinen ganzen Körper aus. Er schob eine Hand unter die Decke, legte sie mit stockendem Atem auf seinen Unterleib. Seine Fingerspitzen wurden gefühllos. Die Ermattung brachte ihm Etiennes Körper in einem Wachtraum zurück, zog ihn aus und enthüllte ihn, ein unergründlicher Tempel, der tausend Geheimnisse barg. Gaspard schob seine Hand unter die feuchten Laken und fasste sein geschwollenes Geschlecht. Die Nacht erstickte seine Seufzer.
IV
DIE STADT NIMMT SICH
WIEDER IHRE RECHTE
Die Droschke wartete bereits auf der Straße. Etienne gab ihm mit der Hand ein Zeichen. Als der Graf den Schlag öffnete, zögerte Gaspard einzusteigen. Es schien ihm, als hätte er in einem Fenster des zweiten Stocks, in Billods Apartment, einen Vorhang zittern gesehen, hoffte, dass es nur ein Lichtreflex gewesen war. Er hatte sich vor dem Verlassen des Ateliers vergewissert, dass sein Meister schlafen gegangen war, es gab keinen Grund zur Beunruhigung. Überdies fühlte er sich durch dieses Ausgehen, das seine Beziehung zu Etienne festigte, beflügelt, und glaubte sich in der Lage, Billod die Stirn zu bieten, falls dieser ihn zur Rede stellen sollte. »Wohin fahren wir?«, fragte er, als die Tür hinter ihm geschlossen war. Ihre Schultern berührten sich beinahe in dem engen Kästchen, das nach dem trockenen Holz und dem Stoff der Sitzbank duftete. Er stellte fest, dass Etiennes Gesicht ekstatisch wirkte, seine Gesten mal langsam, dann wieder nervös waren. In seiner Stimme schwang ein leichtes Zittern mit, als er sprach: »Nicht weit. Doch bleiben wir noch einen Augenblick hier, der Weg ist zu kurz, um uns zu unterhalten. Ich möchte mich bedanken für den angenehmen Abend, den wir gestern zusammen verbracht haben. In Paris wie überall rufen mir diese Orte in Erinnerung, in welcher Welt wir leben. Dahin werde ich Sie führen, Gaspard, wenn Sie mich begleiten mögen. Aufgrund Ihres Standes sind Ihnen die Situationen bekannt, in die wir uns begeben werden.« Der Perückenmacherlehrling schwieg betroffen. Die Leichtigkeit, mit der Etienne, der manchmal so nah war, sich mit wenigen Worten wieder von ihm absetzte, hatte die Wirkung, den Respekt zu vergrößern, den er für ihn empfand, und erinnerte ihn gleichzeitig daran, wie außergewöhnlich diese beginnende Freundschaft war. Etienne drehte ihm das Gesicht zu, seine Pupillen gleich zwei Tintenflecken auf einem Löschblatt. »Sie mögen Ihre Not, nicht wahr? Es gefällt Ihnen, arm zu sein? Ein Nichts zu sein? Denn, Gaspard, was ist denn ein Perückenmachergeselle schon anderes als ein Nichts? Aber vielleicht ist das für Sie schon viel? Vielleicht ist es schon zu viel? Bestimmt könnten Sie sich nichts Besseres erträumen, als einem erbärmlichen Handwerker zu dienen? Ich nehme an, Ihre Erzeuger wären überrascht zu wissen, wie weit ihr Sohn es gebracht hat. Ich kann mir vorstellen, dass Sie schon viel nachgedacht haben, dass in Ihrem beschränkten Geist Pläne gereift sind. Sie wünschen, ein paar Handgriffe zu lernen und dann selbst Perückenmacher zu werden? Ist es nicht das, Gaspard, was Sie wünschen?« In der Stimme des Grafen loderte eine zornige Flamme auf, die Gaspard ins Gesicht schlug. Etienne erniedrigte ihn zutiefst, stellte ihm das Elend seiner Existenz vor Augen. Die Demütigung brach in seiner Brust aus, brandete hoch, schürte ihm die Kehle zu. »Nein … Nein …«, stammelte Gaspard, ohne zu wissen, ob es eine Antwort auf Etiennes Fragen war oder ob er die Worte zurückwies, die er am liebsten nie gehört hätte. Wollte der Graf ihre Beziehung abbrechen? Fiel ihm diese Freundschaft, die er im Nachhinein unvernünftig fand, lästig? »Nein, nein …«, ahmte Etienne ihn nach und stammelte wie Gaspard. Er lächelte, dann hob er eine Hand und legte sie unvermittelt auf Gaspards Wange. Die Finger fuhren den Kieferrand entlang, vom Ohrläppchen zum Kinn, und der Stoff des Handschuhs knisterte auf dem sprießenden Bart. »Was also wünschen Sie in diesem Fall?«, fragte er mit wiedergefundener Fürsorglichkeit. »Werden wie Sie, Monsieur«, brach es aus Gaspard heraus. Dann warf er sich seinen Übereifer vor. Er hatte sich von Etienne in die Enge treiben lassen. Der Zeigefinger hielt auf seinem Kinn inne,
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