Die Erziehung - Roman
an ihrer erbärmlichen Existenz entlanghangelten in Erwartung dieser kargen Mahlzeiten, die sie in den dreckigen Spelunken hastig hinunterschlangen. Nur hier, während die Gedärme an der Verdauung dieser Schmach arbeiteten, während sie beduselt waren von schlechtem Wein, gab die Euphorie ihrem Leben einen vagen, flüchtigen Sinn, bevor sie wieder in die Einsamkeit ihrer Kammern, ihrer von Wanzen wimmelnden Betten zurückkehrten. Aber saß er nicht mitten unter ihnen? War er nicht einer von ihnen, der Perückenmacherlehrling, der es zum Edelmann hatte bringen wollen? Gaspard stand auf, ging mit unsicherem Schritt vom Tisch, ohne dass ihn einer grüßte, überlegte, ob er sein Geld zurückverlangen sollte, stürzte sich dann aber, zu erschöpft dafür, in die Kälte der Straße hinaus, der Bauch schmerzender als je zuvor.
Er ging, das Gesicht zu den mit der Dunkelheit verschmolzenen Häuserfassaden gewandt, überlegte, ob er die Sachen verkaufen sollte, die er mitgenommen hatte. Vielleicht könnte er ein paar Sous dafür bekommen, aber auch dann hätte er sich nicht einmal eine Übernachtung leisten können. Etienne war weit weg, und sein eigener Weggang aus dem Atelier machte die Entfernung noch grausamer. »Du gibst dich damit zufrieden, unbedeutend zu sein«, hatte er eines Abends in der gepolsterten Kabine seines Wagens zu ihm gesagt. Gaspard wurde bewusst, wie Recht er hatte. War es nicht dumm von ihm gewesen, Etienne dieses kindische Geständnis gemacht zu haben? Es war ein Affront, dass er nicht mehr zu bieten hatte als dieses belanglose Gefühl, sagte sich der junge Mann. Nun konnte er nicht mehr davon ausgehen, dass er beim Grafen irgendeine Empfindung auszulösen imstande war. Dieser war geduldig genug gewesen. Während er sich selbst beobachtete, wie er dem Zufall folgend durch die Straßen ging und seine Glieder von Neuem zu zittern begannen, fühlte Gaspard auf einmal mit Erleichterung, wie Recht Etienne gehabt hatte. Er war nichts, absolut nichts. Er konnte verstehen, dass er verschwunden war, und die Gründe zählten kaum noch, es war nur legitim, Gaspard aus dem Weg zu gehen. Würde er sich selbst nicht auch meilenweit aus dem Weg gehen, wenn er es könnte? Hatte er, als er durch die Stadt zog, nicht genau das versucht, sich vom Fluss, von sich selbst zu entfernen? Verachtete er Etienne dafür, dass er gegangen war, oder verachtete er sich selbst, weil er derselbe geblieben, den Erwartungen des Grafen nicht gewachsen war, in diesem scheußlichen Keller dahinvegetiert hatte? Billod tauchte vor ihm auf, sein Blick, der diese anzügliche Begierde ausdrückte, die er die ganze Zeit gespürt hatte. War nicht genau dies die einzige Gegenleistung, die er Etienne geboten hatte, die Erfüllung einer Leidenschaft, durch die er es ermöglicht hatte, sich den Körper des Grafen anzueignen, sich mit ihm zu verbinden? Er fühlte seinen Geruch, schämte sich, für einen Augenblick geglaubt zu haben, einen Mann wie Etienne de V. an sich binden zu können. Niemand konnte für Gaspard auch nur die geringste Achtung empfinden. War der Blick der Kinder, denen er heute auf der Straße begegnet war, nicht voll der Wahrheit? Sie hatten Gaspards Körper naiv und richtig eingeschätzt. Auch Billod und der Comte de V. hatten den Nutzen erkannt, den man möglicherweise aus Gaspard oder besser aus Gaspards Fleisch, diesem unsicheren Fleisch, ziehen konnte. Wieder dachte er an den Fluss, das Wasser würde ihn teilnahmslos mit sich nehmen. Die Vorstellung, von dieser Urmasse verschlungen zu werden, beruhigte ihn. Der Hunger quälte ihn nach wie vor. Sein Fleisch, dieses schale Fleisch, gerade gut genug, um Begierde zu wecken, forderte, was ihm zustand, schrie den Heißhunger hinaus. Gaspard hatte von den Schlachthöfen gehört. Mit leerem Geist und finsterer Miene schlug er die Richtung zum anderen Ufer ein.
Das Zentrum von Paris erstarrte unter dem ergrauenden Schnee. Die Passanten beleuchteten die Straße mit Fackeln, die beim Vorbeigehen die Farbe der Gesichter enthüllten, die viel zu aufgeputzten Frauen, das geäderte Weiß der Häute, das die Unterröcke freigaben, die Köder der schmutzigen Brüste, mit Flocken übersät, die auf der eisigen Haut nicht mehr schmolzen. Gaspard irrte durch die Zurufe, die die Dirnen mit ihren von der Kälte erstarrten Stimmen an die Tagelöhner richteten. Er näherte sich den Schlachthöfen. Hinter den Fassaden drang der Geruch der Herden hervor, begleitet vom Brüllen der Tiere, dem
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