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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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das Verlangen, vielleicht durch den Hass genährt, den ich aufgebaut habe. Nein, nein, mich trifft keine Schuld, höchstens dafür, dass ich einem Schandbuben Obdach, Kost und eine Lehre angeboten habe. Mach die Augen auf, was hat er dir denn zu bieten, dieser Graf, das ich nicht besitze? War es nicht das, was du wolltest, ein Atelier? Nimm, es gehört dir, ich gebe es dir. Ich werde, wenn du willst, dein Schüler sein, dein Lehrling. Ich werde gewissenhaft, aufmerksam sein. Ich werde im Keller schlafen, im selben Bett, in dem du den Schlaf gefunden hast, während ich es nicht schaffte, mich auszuruhen, ständig heimgesucht von dem Bild deiner Haut in den Laken. Ja, ich werde mich in diese Laken einrollen, in ihren Geruch, in deinen Geruch, und stinken wie du. Aber du hast mich missbraucht, ich mache mir nichts vor. Du hast beschlossen, mich zu ruinieren, mit einer solchen Verbissenheit, du hast dich so … eigensinnig verhalten. Und es ist dir gelungen. Ich weiß nicht wie, durch welches Mysterium. Drei Wochen ohne den Schatten eines Kunden, länger als über den Winter kann ich mich nicht halten. Aber ich werde hierbleiben, oh nein, ich werde nicht fortgehen, ich werde nicht als Deserteur enden. Ich schwöre es hier und jetzt. Man muss mich schon vertreiben, um mir alles zu nehmen. Sag ihnen, sie sollen für mehrere Männer sorgen, für kräftige Männer, denn es können gar nicht genug sein, um mich von dem fortzureißen, was ich im Schweiße meines Angesichts erworben habe. Und dann glaubst du, elendigliches Ungeziefer, du könntest dich rühmen, mich missbraucht zu haben? Eher werde ich sterben. Ich habe nichts mehr zu verlieren, sag das nur deinem Grafen. Sag ihm, seine Drohungen seien nichts als ein Windhauch für mich. Ein Windhauch. Jeder weitere Augenblick deiner Anwesenheit hier ist eine Beleidigung.« Justin Billod versuchte mit seinen wahnsinnigen grauen Augen Gaspards verblüfften Blick zu treffen. Er suchte offensichtlich nach einer Antwort auf irgendeine obskure Frage. Als Gaspard, der sich vor lauter Ekel beinahe auf dem Fußboden des Ateliers auflöste, stumm blieb, sagte er: »Geh jetzt. Augenblicklich. Und dass ich dich nie, niemals mehr wiedersehe.« Endlich senkte er die Augen zu Boden, versank wieder in der Beobachtung, in der Gaspard ihn überrascht hatte. An der Ausdruckslosigkeit seiner Pupillen sah Gaspard, dass ihn keinerlei Gedanke mehr belebte. Gaspard wich zurück, ein bitterer, galliger Geschmack füllte seinen Mund, Galle, die er mit dem Handrücken von den Lippen wischte. Er ging auf die Treppe hinaus, und der letzte Anblick des Ateliers – Billod in der Mitte, wie ein Haufen Nippes, genauso leer wie die Schneiderpuppen, die seine Perücken trugen – wich der klammen Finsternis des Eingangs. Gaspard zögerte, versuchte seine Gedanken zu sammeln, entschloss sich dann, in den Keller hinabzusteigen, wo er seine Taschen durchwühlte und die paar Dinge an sich nahm, die er seit seiner Ankunft im Atelier erworben hatte, einen Silberlöffel, eine Lederbörse, ein Messer und einen Kupferhaken. Am Ende seiner Kräfte wäre er beinahe mitten im Untergeschoss zusammengebrochen, zögerte, ob er der Versuchung nachgeben sollte, sich einfach auf dem gestampften Erdboden auszustrecken und für immer dort liegen zu bleiben. Dann ging er, von einem letzten Anflug von Mut beseelt, hinaus.

II

DAS ANDERE UFER
    Er blieb lange auf der Vortreppe stehen, nur noch durch eine durchgetretene Stufe von der Stadt getrennt. Einen Fuß zu heben, ihn auf die Rue de la Parcheminerie zu setzen würde bedeuten, dem Atelier den Rücken zu kehren, wieder ins Gewühl von Paris einzutauchen. Nichts erwartete ihn jenseits dieser Grenze. Etienne war verschwunden, auch in die schmierige Sicherheit des Kellers konnte er nicht mehr zurück. Er konnte aber nicht ewig auf dieser Treppe stehen bleiben, zwischen zwei Welten schwebend. Also wickelte er sich die Decke um die Schultern und stieß in den Strom der Straße. Ein dichter, zäher Schnee fiel auf die Stadt herab, setzte sich auf Haaren und Schals fest, legte eine Membran auf die Dächer, verschlammte das Pflaster. Der sich neigende Tag warf sein gedämpftes Licht über die Häuser, färbte die Lumpen der Passanten grau. Vor einem Haus formten ein paar Kinder Schneebälle, durch ihre Fäustlinge schimmerte das betäubte Fleisch ihrer Finger. Sie hoben die Köpfe, als Gaspard vorüberging, taxierten seinen holperigen Gang, sein ausgemergeltes Gesicht, das aus dem rauen,

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