Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)
selbst als Konsument im Supermarkt agiere, dann erwische ich mich auch dabei, wie ich kritisch die Sachen beäuge und sage: ›Den Apfel mit der Druckstelle soll ein anderer kaufen, ich nehme lieber den, der makellos in Ordnung ist.‹ Hier kann jeder bei sich selbst hinterfragen, wie sinnvoll unsere eigenen Ansprüche sind.«
Wie kommt sie eigentlich dazu, sich um Essen im Müll zu kümmern? Wieder eine sehr rationale Antwort: »Wenn hier Lebensmittel weggeworfen werden, wird nicht nur das Lebensmittel selbst weggeworfen, sondern auch alle Aufwendungen, die entlang der Vorkette schon aufgebracht wurden. Meine Meinung als Naturwissenschaftlerin ist, dass wir hier ein enormes Einsparungspotenzial an Ressourcen und Energie haben. Natürlich auch Arbeitszeit.«
Am besten untersucht ist inzwischen der Hausmüll: Ein Durchschnitts-Haushalt wirft jährlich rund 100 Kilo essbare Lebensmittel weg. Felicitas Schneider fand heraus, dass etwa zehn Prozent des Haushaltsmülls aus Haushalten aus essbaren Lebensmitteln besteht: »Das heißt originalverpackte oder angebrochene, nur teilweise verbrauchte Lebensmittel. Die Speisereste haben wir da noch nicht mit einberechnet, da kommen noch mal fünf Prozent dazu.«
Die Zahl schockiert mich heute noch: 15 Prozent Lebensmittel im Hausmüll. Das Ergebnis hat auch die Wiener Abfallbetriebe alarmiert. In Österreich, wie fast überall in Europa, wird der Haushaltsmüll verbrannt. Doch Lebensmittel stellen die Müllverbrennungsanlagen vor ein Problem: Sie enthalten viel Wasser. Um sie zu verbrennen, muss mehr Brennstoff zugegeben werden. Eine weitere Energieverschwendung.
Die Abfallverbände haben deshalb – nicht nur in Wien – eine Offensive gestartet. Allen voran im Bundesland Niederösterreich. Aufkleber wurden auf den Mülltonnen angebracht: »Bitte nicht füttern – keine Lebensmittel im Abfall.« Der TV – Koch Alois Mattersberger wurde angeheuert und fährt mit einer mobilen »Restlkochzeile« durchs Land, um auf öffentlichen Plätzen den Menschen das kreative Kochen mit Resten nahezubringen. Und schließlich wurde ein »Sackerl« (Tüte) aus Maisstärke verteilt, in dem Gemüse, Obst, Brot und Gebäck einige Tage länger frisch bleiben als in anderen Verpackungen.
Weil am meisten Lebensmittel in den Tonnen der großen Wohnanlagen gefunden wurden, hat man dort begonnen, die Haushalte zu befragen – wissenschaftlich begleitet durch Felicitas Schneider und ihre Kollegen. Konsterniert fasst sie zusammen: »Viele Haushalte werfen die Sachen schon weg, bevor sie eben schlecht werden, weil sie sagen, sie brauchen sie einfach nicht mehr. Und falls sie es doch noch brauchen, dann kaufen sie es nach.«
Die Forscherin stellte bald fest, dass sie oft keine ehrlichen Antworten bekam: »Die Leute streiten zuerst einmal ab, dass sie Lebensmittel wegwerfen, weil es ja doch in unserem Kulturkreis eher ein moralisches Unbehagen hervorruft.« Weil sie parallel auch die Mülltonnen untersucht hatte, konnte sie schnell erkennen, wie Realität und Selbstwahrnehmung auseinanderklaffen.
»Die Selbsteinschätzung ist meistens viel zu niedrig. Die Leute schätzen, dass sie sehr wenige Lebensmittel wegwerfen, und in Wirklichkeit werfen sie aber doch einiges weg.« Eine positive Überraschung gab es, als die Forscher nach einigen Monaten wiederkamen: In den untersuchten 1000 Haushalten hatte sich das Volumen der Lebensmittelabfälle um mehr als zehn Prozent verringert. Offenbar hatte allein schon die Befragung einen Sinneswandel ausgelöst.
Den Aktionen der Forscher und Abfallbetriebe folgte ein großes Medienecho in ganz Österreich. Hilfsorganisationen gründeten sich, die die Überproduktion an Bedürftige verteilen. Dabei überschreiten sie manchmal auch Tabus. Zum Beispiel bietet das Wiener Hilfswerk in seinen Sozialmärkten durchaus auch abgelaufene Ware an.
Nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum? Bei den deutschen Tafeln hört man hierzu meist Sätze wie: »Das ist gesetzlich nicht erlaubt.« Carsten Zerch, Marktleiter des Sozialmarkts in der Wiener Neustiftgasse, weiß es besser. Der gebürtige Deutsche weiß auch, dass die gesetzliche Lage in beiden Ländern durchaus vergleichbar ist: »Diese Tütensuppe zum Beispiel. Sie ist schon fast zwei Monate über dem Datum, und ich sage, sie ist noch mindestens zwei weitere Monate genießbar.«
Er geht dabei keineswegs leichtsinnig vor: »Wir haben vom Hersteller ein Zertifikat bekommen, das bestätigt, dass die Ware auch noch ein halbes Jahr
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