Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)
Fäulnis waren überlebensnotwendig. Momente der Völlerei gab es nur direkt nach der Ernte oder dem Schlachten.
Heute leben wir täglich in der Illusion dieses Schlaraffenlandes. Überschreiten wir die Schwelle zum Supermarkt, betreten wir eine andere Welt: einen Ort der Frische, der Jugend und des ewigen Überflusses. Nichts darf verwelkt, alt oder schrumpelig sein, nichts unrein, farblos oder fad. Hier treten wir auch aus unserer gewohnten Umgebung aus, globalisieren uns und treffen auf Speisen von der anderen Seite der Erde. Selbst die exotischsten Früchte, Fische oder Gewürze hat heute jeder einigermaßen gut sortierte Supermarkt im Angebot. So schön, so gut. »Doch je länger dieser paradiesische Zustand andauert, desto mehr wird er zur faden Selbstverständlichkeit. Ganz anders als im Schlaraffenland stellt sich so etwas ein wie eine psychische Hungersnot: Vor lauter Angeboten weiß man eigentlich gar nicht mehr, was einem noch wirklich schmeckt«, analysiert Jens Lönneker, Managing Partner bei rheingold, dem bereits erwähnten Kölner Institut für Markt- und Medienanalysen, die Situation. Hinweis Mit einer aktuellen Ernährungsstudie versucht rheingold psychologisch zu ergründen, warum wir immer zu viel kaufen.
Entfremdung der Essenszubereitung
Die Werbepsychologen stellen fest, dass sich die herkömmlichen und tradierten Formen des Essens gewandelt haben. Die neuen Trends der Esskultur beschreiben sie mit den Begriffen Entsinnlichung, Entbindung und Entrhythmisierung.
»Entsinnlichung« meint, dass alles, was mit Schmutz bei der Essenszubereitung zu tun hat oder gar Ekel auslösen könnte, vermieden wird. Ein Fisch darf keinen Kopf mehr haben, die Innereien eines Hähnchens müssen entfernt sein, und Fleisch sollte von Sehnen und Knochen befreit sein. Die deftigen Seiten des Essens werden so weit wie möglich ausgeblendet; am besten ist die Mahlzeit bereits servierfertig vorbereitet. Alles muss schmecken wie gewohnt, da bleibt kein Platz mehr für feine Unterschiede.
Gemeinsame Mahlzeiten im Familienkreis – Stichwörter »Entbindung« und »Entrhythmisierung« – sind aufgrund unterschiedlicher Tagesabläufe und Arbeitszeiten zur Seltenheit geworden. Gegessen wird, wann es sich gerade einrichten lässt, und dann isst jeder, was ihm schmeckt bzw. wonach es ihn gerade verlangt. »Essen hatte in der Vergangenheit psychologisch betrachtet die Aufgabe, dabei zu helfen, die Gemeinschaft der Familie herzustellen und einen Rhythmus in unseren Alltag zu bringen. Heute praktizieren wir jedoch andere Formen des Zusammenlebens, sodass die tradierten Funktionen des Essens ihren Sinn verloren haben: Individuelle Wünsche haben oft Vorrang gegenüber dem früheren Diktat einer immer gemeinsam einzunehmenden Mahlzeit oder eines für alle verbindlichen Essensrhythmus. Anders formuliert: Wir können heute nicht mehr so essen wie noch vor einigen Jahren und Jahrzehnten, weil wir unseren Alltag heute völlig anders gestalten«, beschreibt Lönneker die Situation. Hinweis
Mit der Neuorganisation des Essens stellt sich die Frage: Wer versorgt eigentlich wen? Niemand fühlt sich dauerhaft wirklich zuständig für die Essensbeschaffung und – zubereitung. Versorgungsleistungen werden »nach außen« delegiert, eine Entfremdung gegenüber den Nahrungsmitteln tritt ein. Davon profitieren nun verstärkt Restaurants, Supermärkte mit ihren Fertiggerichten oder der Pizzaservice. Essen als soziale Handlung tritt immer mehr in den Hintergrund gegenüber anderen Beschäftigungen wie arbeiten, fernsehen, Sport oder reisen. Die eigentliche Essenszubereitung wird nebensächlich. Alles muss schnell gehen, darf nicht belasten und nicht zu viel Reinigungsaufwand nach sich ziehen.
Dabei verlottern auch die Essenssitten. »Die Trends zur Entrhythmisierung und Entbindung führen heute dagegen zu mehr ganz privaten Räumen beim Essen. Hier kann zwangloser und mit weniger Anspruch auf Tischsitten auch einmal ›direkt aus dem Topf‹ gegessen werden. Diese ›kleinen Sauereien‹ werden öffentlich nicht gern zugegeben und bleiben im Heimlichen. Die neuen privaten Räume bieten trotz alledem Raum für verlockend unkultivierte Ernährungsangebote wie Süßkram, Ravioli, TK – Dips etc.«, schreibt Lönneker.
Man kann ergänzen: Was man davon alles wegwirft, sieht auch niemand.
Aber so ganz loslassen vom familiären Essenstisch kann man auch nicht. »Gleichzeitig besteht eine Sehnsucht nach guten, alten
Weitere Kostenlose Bücher