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Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)

Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)

Titel: Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kreutzberger , Valentin Thurn
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Verhalten
    Dass Essen und Emotionalität untrennbar zusammengehören, sieht auch Dr. Gunther Hirschfelder, Professor für vergleichende Kulturwissenschaften an der Universität Regensburg. »Sonst können wir«, so Hirschfelder, »die Struktur der Ernährung – ob es um Adipositas geht oder um die Frage, warum die Spitzengastronomie männerdominiert ist – nicht erklären.«    Hinweis  
    Hirschfelder nähert sich den Themen Überfluss und Wegwerfmentalität mit kulturanthropologischen Überlegungen. Im Interview führt er die Entfremdung vom sozialen Genuss des Essens sowie ein gesellschaftlich bedingtes schlechtes Gewissen als Hauptgründe an.    Hinweis   »Alles, was wir tun, und alles, was wir an unvernünftigen Dingen tun, mit denen wir unserem Körper schaden und unsere Genussfähigkeit vermindern, haben wir kulturell gelernt und üben wir als kulturelle Praxis aus.«
    Essen und Essenszubereitung waren jahrtausendelang eine gemeinschaftliche Angelegenheit. Die meisten unvernünftigen Dinge haben wir wohl erst im 20. Jahrhundert dazugelernt. »Wir sind definitiv geschmacklich total abgestumpft. Essen und Genuss sind komplexe Phänomene und haben neben der individuellen auch eine soziale Komponente. Ich muss mich über Genuss austauschen können, ich brauche für Genuss eine bestimmte Art von Atmosphäre. Wir haben auf dem Weg zu einer Single-Gesellschaft, einer mobilen Gesellschaft, einer virtualisierten Gesellschaft die gemeinsamen Esskontexte vergessen. Wer alleine und hektisch isst, der will und kann gar nicht genießen – denn Genuss braucht Zeit.«
    Die Gesellschaft ist durchstrukturiert und überreguliert. Wann der Mensch zur Schule und zur Arbeit zu gehen hat, wann er in der Freizeit ausspannen kann, welche Mode gerade gilt, ist relativ festgelegt. Für individuelles Verhalten bleiben wenige Freiräume. Essen ist hingegen eine private Entscheidung. Was das Individuum wann isst, kann es heute selbst entscheiden. Diese kleine Insel des Unregulierten ist aber nach wie vor bedroht durch unsere christlichen Moralvorstellungen, den politischen Common Sense oder schlichte Angst: »Essen ist mit schlechtem Gewissen verknüpft. Wir sind entweder politisch betroffen, dann haben wir ein schlechtes Gewissen, weil wir ein Tier töten oder mit dem Essen die Umwelt schädigen. Oder wir befürchten, uns mit dem Essen zu vergiften. Wir haben den Eindruck, dass wir durch Essen zu fett oder zu dünn werden oder nicht genug Nährstoffe, Vitamine oder Omega-Fettsäuren bekommen – wir haben ein permanentes Defizit.«
    Auf die Frage, wieso aufgeklärte Menschen fortgesetzt zu viele, zu fette, zu süße und mit Chemiegiften behandelte Nahrungsmittel zu sich nehmen, verweist Hirschfelder auf die Psychologie: »Die Leute essen nicht bewusst schlecht, sie tun es unbewusst. Es ist eine Bewältigungsstrategie für andere kulturelle oder gesellschaftliche Defizite. Man stolpert da so rein. Essen ist immer symbolisch aufgeladen. Ich kann durch Essen politisch korrekt handeln und ich kann politisch unkorrekt handeln, ich kann durch Essen die Welt retten – aber ich kann es nie allen recht machen.«
    Aber woher kommt diese Tendenz, sich mit der Ernährung selbst zu schaden? Hirschfelder sieht hier archaische Muster am Werk: »Der Mensch braucht irgendwann Orgien, und wenn ich keine Orgien mehr habe, dann nehme ich eben die Fressorgie. Ich praktiziere all-you-can-eat und finde das ganz normal. Außerdem sind wir immer noch so weit Steinzeitmenschen, dass wir natürlich beim Buffet zuschlagen.« Völlerei und Wegwerfen bedeuten auch Macht. Hirschfelder fragt sich, ob diese Form von »Gewalt gegenüber Lebensmitteln« nicht eigentlich eine Gewalt gegen die Natur ist und damit deren kulturelle Bewältigung.
    Welche Rolle spielen dabei Werbung und Marketing sowie die Erziehung? Hirschfelder sieht eine Wechselwirkung, die den Verbraucher nicht aus der Verantwortung entlässt. Für ihn ist der Supermarktkunde kein willenloser Zombie, sondern verantwortlich für sein Einkaufsverhalten: »Das Individuum hat nur bedingt Schuld, und irgendwo hat es die ganze Schuld. Es handelt sich um relativ logische Prozesse. Es ist natürlich zum großen Teil eine Fehlsteuerung der Politik, weil sie in den letzten Jahrzehnten falsche Akzente gesetzt hat. Wir haben bestimmte Dinge zugelassen, die man nicht zulassen durfte. Wir begehen gerade kollektive Sünden mit Convenience-Produkten bei der Schulernährung. Und wir haben einen Markt, der

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