Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)
Versorgungssituationen in der Familie, die heute nur noch an besonderen Tagen wie etwa an Weihnachten realisiert werden. Diese Sehnsüchte bilden einen hervorragenden Anknüpfungspunkt für Werbemaßnahmen: Wie bekomme ich heutzutage etwas von der Wärme und Geborgenheit, die die Versorgung der Familie früher bereitstellte?« Bei besonderen Anlässen wie Geburtstagen oder Treffen langjähriger Freunde tritt das Essen daher wieder stark in den Vordergrund. Das Beste ist gerade gut genug, und man tischt lieber zu viel als zu wenig auf. »Hier wird sich dann bemüht, möglichst viel Kochkunst zu demonstrieren. Exotische Nahrungsmittel und Gerichte, aufwendige Zubereitungsformen und Top-Qualitäten stehen im Vordergrund«, weiß Lönneker.
Eine schizophrene Situation also: Nähe und Geborgenheit auf der einen Seite, exzessiver Individualismus auf der anderen Seite. Lönneker prägt das Bild von der »Hungersnot im Schlaraffenland«: Sie »wird dadurch ausgelöst, dass die Menschen immer weniger so essen wollen, wie es die traditionelle Wunschvorstellung des Schlaraffenlandes suggeriert. Wir wollen das Essen heute an neuen Leitbildern orientieren, die Fragen wie Versorgung, Individualität, Öffentlichkeit und Alltag neu regeln helfen.« Hinweis
Der Psychologe Stephan Grünewald, Geschäftspartner Lönnekers bei rheingold, hatte uns ja bereits erläutert, dass der Joghurt heute nicht nur unseren Hunger befriedigt: »Er soll nicht nur satt machen, sondern er befriedigt unseren Lebenshunger.« Beim Shopping versuchen wir »für jede Lebens- und Stimmungslage gerüstet zu sein. Darum kaufen wir letztendlich immer zu viel.« Hinweis
Das große Markensortiment, die enorme Auswahl sind das Aushängeschild der Supermarktketten wie Rewe und Edeka. Doch die Rechnung geht nicht immer auf. »Die Verbraucher genießen auf der einen Seite zwar die große Auswahl an Lebensmitteln, die ihnen heute geboten wird. Auf der anderen Seite sehnen sie sich aber auch nach Orientierung und Information«, sagt Dr. Ulrich Ellinghaus vom Fresenius-Institut. Hinweis
Das erklärt unter anderem auch den Erfolg der Discounter. Eine begrenzte Eigenmarkenauswahl ermöglicht bessere Orientierung und hilft bei der Entscheidung. Hier gibt es nicht 30 verschiedene Joghurts, sondern nur zwei: einen billigen und einen teureren. Und die Qualität der Discountwaren, das belegen viele unabhängige Untersuchungen, ist meist nicht schlechter als die der Markenprodukte. Weniger Markenvielfalt und geringere Auswahl an Frischgemüse und Obst erleichtert den Discountern die Warenbestandsplanung und bringt dadurch auch erhebliche Vorteile bei der Vermeidung von Lebensmittelmüll. Bei Aldi & Co. sind abends die Regale und Warentische so gut wie leer, während nebenan bei Edeka die Müllcontainer gefüllt werden.
Haben wir uns als Supermarktkunde endlich für einen Stimmungswarenkorb entschieden, tickt bereits die Ablaufuhr: Irgendwann sind viele Lebensmittel nicht mehr verzehrbar und werden weggeworfen. Grünewald hat uns bereits den Gedanken nahegebracht, dass es so etwas wie eine zwiespältige Lust beim Wegwerfen gibt, die von einem schlechten Gewissen herrührt. Manchmal entwickelt man sogar einen regelrechten Zorn gegen all diese Produkte, die von einem Aktivitäten wie schälen, kochen und auftischen verlangen. Dann ist es ein Akt der Befreiung, mal was in den Müll zu kippen. Wir wissen zwar, dass das Wegwerfen von Lebensmitteln, die woanders dringend benötigt werden, nicht redlich ist, aber wir können die Produktfülle einfach nicht mehr bändigen.
Gründe für diesen Irrsinn sieht Grünewald auch beim eigenen Belohnungssystem: »In der Seele eines Konsumenten sind wirklich zwei Kräfte wirksam: Einerseits ist da die Gier, die immer wieder zum Kauf anstachelt, andererseits ist dort die Vernunft – die Haushaltsregulierung, der kleine Geldbeutel, der Einkaufszettel –, die uns letztendlich diszipliniert. Das ist ein steter Kampf. In unserer Einkaufschoreografie haben wir eine Aufstellung: Wir arbeiten pflichtgemäß unseren Einkaufszettel ab und belohnen uns für die Disziplin, indem wir anschließend – quasi als Kür –nach Herzenslust zugreifen können.«
Aber ein großer Teil dessen, was wir uns erträumt haben – die frische Rohkost mit Dip, das lauschige Dinner bei Kerzenschein oder das Rezept, das man schon immer einmal ausprobieren wollte –, endet ganz unromantisch auf dem Müll.
Wegwerfen als gelerntes
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