Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)
permanent unter Druck steht und versucht, uns alles zu verkaufen. Aber ich denke, der Markt ist letztlich nicht schuld. Der Kunde ist schuld. Wir brauchen mehr verantwortungsvolle Verbraucher.«
Das Dilemma der Vielfalt
»Kapitalismus heißt Verpflichtung zum Konsum«, betont Hirschfelder und deutet damit an, dass sich der Verbraucher freiwillig in das System einpasst. »Als Konsument können wir keine leeren Regale vertragen. Wir wollen die Illusion von Auswahl, um uns als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu fühlen. Je schwächer ein Mensch ist, desto mehr ist er gezwungen, an solchen Kontexten zu partizipieren. Wir wollen maximale Freiheit, wissen aber nicht, damit umzugehen.« Werfen wir vielleicht auch deshalb so viele gute Lebensmittel weg? Beinhaltet die Pflicht zum Konsum zugleich das Gebot der raschen Vernichtung, damit wieder Neues gekauft werden kann?
So weit will Hirschfelder nicht gehen. Er weist auf Entfremdung, Verdrängung und Desinformation hin: »Die Vorstellung bei großen Teilen der Bevölkerung ist so, dass wir glauben, einigermaßen alles aufzuessen, und dass die Reste dann bei irgendeiner karitativen Tafel landen, die wir quasi mitbezahlen. Wir sind dann gewissermaßen wohltätig, weil Arme das Brot essen, das wir verschmähen. Die Realität ist völlig anders, und die ist den Menschen überhaupt nicht bewusst. Wir wissen eigentlich als Gesamtgesellschaft, dass wir derartig auf dem Zahnfleisch gehen, dass wir diese Schrecklichkeiten gar nicht mehr sehen wollen, weil wir sie überhaupt nicht mehr bewältigen können. Der andere Punkt ist die Entfremdung von den Lebensmitteln. Wer vom System der Landwirtschaft und Ernährung maximal entfremdet ist, wird kein Problem damit haben, etwas wegzuwerfen. Viele Menschen haben die Bezüge völlig verloren. Das ist ein großes pädagogisches Problem. Das kann man sicher der Politik insgesamt vorwerfen, in schulischen Kontexten solche Dinge nicht stärker eingebaut zu haben, durch alle Disziplinen.«
Ein weiterer Aspekt, warum wir mit den Lebensmitteln achtlos umgehen und sie gering schätzen, ist ihr Preis. Der ist in Deutschland, im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern, sensationell niedrig. »Unser ganzer Umgang mit Lebensmitteln ist deshalb krank, weil sie viel zu billig sind. Billig im doppelten Sinn: schlechte Qualität und niedriger Preis«, bemerkt Hirschfelder. Nahrungsmittel können nur deshalb so billig sein, weil die gesellschaftlichen Folgekosten des Anbaus, der Herstellung und Verwertung von Nahrungsmitteln nicht eingerechnet werden. Das ist so wie bei der Atomenergie. Eigentlich müssten die industriell produzierten Lebensmittel deutlich teurer sein als Bioprodukte.
»Ich würde mir ein Agrar- und Ernährungssystem wünschen«, sagt Hirschfelder, »wo wir nicht wie im Augenblick 13 Prozent des verfügbaren Nettoeinkommens für Essen und Trinken inklusive Außerhausverzehr ausgeben, sondern wie etwa in Frankreich oder Italien über 20 Prozent. Das würde uns mehr Genuss und bessere Produkte bescheren und – wenn man es richtig anpackt – eine fairere und nachhaltigere Landwirtschaft ermöglichen.«
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Véroniques Zorn über Verschwendung
In Deutschland fanden wir keinen Supermarktchef, der über die Lebensmittelverschwendung sprechen will. Ein Zufall führt uns über die Grenze nach Nordfrankreich. In Templeuve bei Lille führt Thomas Pocher einen »Hypermarché« der Leclerc-Kette. Ein junger, dynamischer Chef, der sich für nachhaltiges Wachstum engagiert.
Deshalb hat er – als erster Supermarktleiter Frankreichs – ein CO 2 – Label eingeführt. Er beauftragte ein Forschungsinstitut, die Menge an Klimagasen für den Transport jedes einzelnen Produkts zu berechnen. Elektronische Etiketten in den Regalen zeigen die CO 2 – Emissionen direkt unter dem Preis an. Und auf dem Kassenzettel können die Kunden sich die CO 2 – Menge für den gesamten Einkauf zusammenrechnen lassen.
Ob das ihr Einkaufsverhalten geändert hat? Die Kunden reagieren sehr unterschiedlich auf diese Frage, die Bandbreite reicht von »Ja, das spielt eine Rolle bei meiner Entscheidung« bis zu »Mich verwirren diese vielen Zahlen«.
Nichts geändert hat sich jedenfalls an der Angebotspolitik des Supermarkts. Auch hier gilt das Gebot: Die Regale müssen stets gefüllt sein, bis zum Ladenschluss. Am frühen Morgen, noch bevor die ersten Kunden den Laden betreten, schreiten die Verkäufer zum Aussortieren der Ware. Joghurts werden
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