Die Essenz der Lehre Buddhas
ich als Gesetz der entgegengesetzten Kräfte bezeichnen würde. Wir sind mit der Wirkung gegensätzlicher Kräfte in der materiellen Welt vertraut. Wenn es im Zimmer zu kalt ist, drehen wir die Heizung höher. Wenn es zu warm wird, drehen wir sie zurück. Hier wirkt das Gesetz der gegensätzlichen Kräfte so, dass Wärme und Kälte nicht gleichzeitig vorhanden sein können, das eine verdrängt das andere. Ähnlich verhält es sich mit Dunkelheit und Helligkeit: Wenn ich im Zimmer Licht mache, ist die Dunkelheit weg.
Wie das Gesetz der gegensätzlichen Kräfte auf vielerlei Art in der Außenwelt wirkt, so wirkt es auch in unserer Innenwelt, der geistigen Welt. Um negativen Emotionen wie Zorn und Hass entgegenzuwirken, üben wir Herzensgüte und Mitgefühl. Oder wir meditieren, um ein weiteres Beispiel zu geben, über die Unreinheit und Vergänglichkeit der Objekte unseres Begehrens, um unserem starken Lustverlangen und Haften zu begegnen. So kann unser Denken den plagenden Gefühlsregungen entgegenwirken und sie nach und nach abbauen.
Solche »Gegengifte« vermindern jedoch die Heimsuchungen unseres Geists nur und können sie nicht gänzlich ausräumen. Erst die erkennende Erfahrung der Leerheit, die wahre Einsicht voraussetzt, wirkt so gründlich auf unsere negativen geistigen Neigungen wie der Lichtschalter, der die Dunkelheit aus dem Zimmer vertreibt: Augenblicklich ist unser gewohntes verblendetes Festhalten an der Eigenexistenz der Dinge verschwunden.
Manche geistige Plagen haben etwas mit unserem Denken zu tun, während andere impulshafter Natur sind. Zorn und Anhaftung sind beispielsweise eher impulshaft, der Verstand hat keinen wesentlichen Anteil an ihnen. Unsere grundlegende Unwissenheit dagegen hat eine Menge mit unserem Denken zu tun, weshalb es ihr direktes Gegenteil zu aktivieren und zu üben gilt, nämlich die Weisheit, die uns zur Erkenntnis der Leerheit führt.
Weisheit und Unwissenheit sind geistige Phänomene, aber ihre Kraft bezieht unsere grundlegende Unwissenheit
vor allem aus langer Gewöhnung. Sie zeigt uns die Dinge nicht so, wie sie wirklich sind: Unsere irrtümliche Wahrnehmung hat keine reale Grundlage, und es gibt keine Vernunftgründe, die überzeugend für sie sprechen könnten. Leerheit dagegen mag anfangs sehr schwer zu verstehen sein, stimmt aber mit der Realität überein und beruht auf unzweifelhafter Erfahrung, sodass sie auch der eingehenden logischen Überprüfung standhält.
Wenn wir die »Leerheit erkennende Weisheit« herangebildet haben, kommt es darauf an, dass sie uns immer vertrauter wird, denn umso mehr wird sie bewirken können. Nach und nach entwickelt sich unsere Weisheit, bis sie schließlich unsere Grund-Unwissenheit gänzlich beseitigt.
Unser Geist ist seiner Natur nach klar und lichtvoll und in diesen Grundeigenschaften rein, das heißt ohne Verunreinigungen. Wenn wir über längere Zeit die Weisheit in uns herangebildet haben, wird es schließlich möglich, unsere Grund-Unwissenheit so weit auszuräumen, dass die geistigen Plagen, ja sogar die Neigung zu solchen durch unsere Unwissenheit bedingten plagenden Gedanken nicht mehr auftreten. Da es also möglich ist, alles abzubauen, was die lichtvolle Klarheit und Erkenntnis behindert, besteht Anlass zu der Vermutung, dass wir auch den Zustand der All-Erkenntnis erreichen können.
Abhängiges Entstehen
Wer also bin ich? Wer oder was bin ich im Innersten? Bin ich eines der geistigen oder körperlichen Elemente, aus denen das besteht, was ich »Ich« nenne? Oder bin ich das Gefüge dieser Elemente? Wenn ich weder in den Bestandteilen meines Körpers bin noch als die Gesamtheit aller Elemente bezeichnet werden kann, wer bin ich dann? Kann man sagen, ich sei etwas von den Elementen des Körpers Getrenntes und Eigenständiges? Auch diese Position ist letztlich unhaltbar, denn wie sollte ich unabhängig von den Teilen sein, aus denen ich bestehe?
Wie Nagarjuna gezeigt hat, ist der Begriff »Ich« lediglich eine Bezeichnung, abhängig von der Gesamtheit der körperlichen und geistigen Anteile, die mich ausmachen. Eine bloße Bezeichnung kann nicht unabhängig bestehen, da sie ja etwas braucht, worauf sie sich bezieht. Wenn etwas jedoch von abhängiger Natur ist, kann es nicht unabhängig existieren – Abhängigkeit und Unabhängigkeit schließen sich gegenseitig aus. So kann die Ich-Vorstellung also keine unabhängige Eigenexistenz haben, da etwas abhängig Existierendes nicht zugleich unabhängig existieren
Weitere Kostenlose Bücher