Die Essenz der Lehre Buddhas
objektiv gegeben ist und sozusagen aus seinem eigenen Charakter hervorgeht. Die Frage lautet mit anderen Worten, ob die Bestandteile des Stuhls in ihrer Zusammensetzung, die wir vor uns sehen, einen Stuhl enthalten. Die Autonomisten sagen, dass überhaupt kein Stuhl zu sehen wäre, wenn er nicht aus sich selbst existierte. Für sie ist es demnach keine Fehlwahrnehmung des Stuhls, wenn wir so etwas wie Stuhlheit oder ein innewohnendes Sein des Stuhls erkennen. Eigentlich, sagen sie, ist es sogar wesentlich dafür, dass überhaupt ein Stuhl vorhanden sein kann. Die Schlussfolgerer halten dagegen, dass nichts je in oder aus sich selbst existiert und deshalb jeder Anschein von innewohnendem Sein nur ein Irrtum sein kann.
Einige Autonomisten des Mittleren Weges erklären das alltägliche Vorhandensein der Dinge ähnlich wie die Nur-Geist-Denker: Die Dinge, mit denen wir zu tun haben – Tische und Stühle, Freunde und Widersacher –, sind vom gleichen Wesen wie das Bewusstsein, das sie wahrnimmt. Wenn wir also einen Tisch sehen, sind der Tisch und unser Geist von gleichem Wesen oder gleicher Natur.
Die Ansicht der Autonomisten des Mittleren Weges unterscheidet sich jedoch von der der Nur-Geist-Philosophen in der Antwort auf die Frage, ob der Tisch aus sich selbst heraus und wahrhaft existiert oder nicht. Für die Autonomisten kann der Tisch nicht wahrhaft und stofflich existieren, wenn er von derselben Natur ist wie der Geist, der ihn wahrnimmt; dagegen finden die Nur-Geist-Philosophen, der Tisch müsse schon stofflich existieren, sonst könne er gar nicht vorhanden sein. Es gibt weitere Stimmen, die zum Beispiel sagen, die Dinge seien so, wie sie uns erscheinen: nicht gänzlich unabhängig von dem Geist, der sie wahrnimmt, aber doch von ihm verschieden.
Alle, die sich Nagarjunas Schule des Mittleren Weges zugehörig fühlen, stimmen darin überein, dass die Dinge letztlich – das heißt für ein höchstes Bewusstsein, das um die letztgültige Wahrheit weiß – überhaupt nichts von Existenz an sich haben, da dieses höchste Bewusstsein nichts anderes als die Leerheit aller Phänomene erfährt: Nichts hat ein in ihm selbst liegendes Sein. Leerheit ist die letzte Wahrheit. Sie ist das, was der Yogi realisiert, wenn er sich auf das Allerhöchste sammelt.
Wenn wir zu dieser höchsten Wahrheit kommen möchten, müssen wir über unsere alltägliche Wahrnehmung des vor uns stehenden Stuhls hinausgehen und ihn analysieren: Gibt es da einen wahrhaft existierenden Stuhl unabhängig von unserer Wahrnehmung eines Stuhls? Wir gehen innerlich die Teile durch, die einen Stuhl ausmachen –
die vier Beine, die Sitzfläche, die Lehne –, und sehen uns nach einem von diesen Bestandteilen unabhängig bestehenden Stuhl um. Unser Schluss wird lauten, dass wir lediglich ein Gefüge von Teilen als Stuhl bezeichnen, aber nicht unabhängig davon auch noch ein Stuhl existiert.
Wer in seiner Meditation nach einem von den Bestandteilen unabhängigen Stuhl geforscht hat, wird seinen oder ihren Geist dann ganz und gar auf die Unauffindbarkeit eines solchen Stuhls sammeln. Durch fortgesetzte Konzentration kommt man schließlich zur Erfahrung dieser Unauffindbarkeit und erkennt statt des wahrhaft existierenden Stuhls … Leerheit.
Der Weg zu dieser Erfahrung beginnt mit logischem Schlussfolgern, das einen zunächst zum gedanklichen Erfassen dieser Leerheit führt: Der Stuhl besitzt kein in ihm selbst liegendes Sein. Diese Annäherung an die Leerheit durch logisches Schlussfolgern erscheint dem Yogi als rein gedanklich, aber wenn er in seiner Konzentration auf diese erschlossene Leerheit bleibt, wird er schließlich die Leerheit eines Stuhls, das Nichtvorhandensein eines im Stuhl selbst liegenden Seins, unmittelbar erfahren und so klar sehen, wie ich jetzt die Linien meiner Hand sehen kann. Wir sagen dann, der Geist, der die Leerheit erfährt, und die wahrgenommene Leerheit selbst seien von einem Geschmack. Es ist, als würde man Wasser in Wasser gießen. Die Dualität von Subjekt und Objekt existiert nicht mehr. Der Yogi hat eine Stufe der Meditation
erreicht, die Pfad des Sehens genannt wird, und er selbst wird jetzt als ein Edler bezeichnet.
Nagarjunas Interpreten sind sich darin einig, dass auf der höchsten Bewusstseinsebene – in diesem Zustand meditativer Ausgeglichenheit – unmittelbar die Leerheit des Stuhls realisiert wird, das Fehlen von wahrem, substanziellem Sein. Die Meinungsverschiedenheit bei Nagarjunas Nachfolgern betrifft
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