Die Euro-Lügner: Unsinnige Rettungspakete, vertuschte Risiken - So werden wir getäuscht (German Edition)
Entsprechend werden viele Brüsseler Vorschriften nicht als Hilfe im Alltag, sondern als weltfremdes Diktat empfunden.
Nur wer sich in einer konkreten Lebens- und Arbeitssituation befindet, kann einschätzen, was an dieser Stelle für das Land und die Kommune getan werden kann. In modernen Staaten nennt man dieses Prinzip Föderalismus oder Subsidiarität. Folgt man unserem Grundgesetz, so steht den einzelnen Bundesländern gegenüber der Berliner Zentrale größte Autonomie zu – ob sie sie voll ausschöpfen, ist eine andere Frage.
In der Wirtschaft habe ich die Erfahrung gemacht, dass mittelständische Unternehmen oft viel flexibler und einfallsreicher auf veränderte Marktsituationen reagieren als Großunternehmen – woraus ich den Schluss zog, dass Großunternehmen dann am reaktionsschnellsten sind, wenn sie sich selbst subsidiär organisieren, sich also in kleine, für sich verantwortliche Unternehmen oder Einheiten aufgliedern. Je größer eine Organisation ist, umso mehr muss sie delegieren, eigenverantwortlich agierende Zentren bilden und die Möglichkeit schaffen, »unten« beim Kunden beziehungsweise Bürger die optimale Lösung zu finden. Als IBM -Chef habe ich dieses Prinzip immer zu beherzigen versucht. Und wenn ich es doch einmal außer Acht ließ, habe ich es schnell bereut.
Mir fällt auf, dass im Lissaboner Vertrag von 2007 der Begriff »Subsidiarität« ständig auftaucht. Man wusste also, was für Europa nützlich ist, und deshalb haben sich die Europäer darauf geeinigt, einander bei aller Gemeinsamkeit doch größtmögliche Selbstverantwortung zu belassen. Bis zur Eurokrise gehörte der Begriff »Subsidiarität« zum Kern jeder europapolitischen Rede, bildete sie doch die Grundlage der europäischen Einigung. Im Konvent für Deutschland haben wir unserer Regierung vorgeschlagen, einige Verantwortlichkeiten, die inzwischen in Berlin oder Brüssel konzentriert wurden, an die Bundesländer beziehungsweise an die Staaten zurückzugeben. Dagegen gibt es Elemente, bei denen eine Zentralisierung Sinn macht, wie zum Beispiel eine gemeinsame Verteidigungs- oder Außenpolitik. Oder meinetwegen die Durchsetzung eines einheitlichen Steckers für Mobiltelefone und Laptops.
Als Nebeneffekt der Euro-Rettungspakete hat sich diese Tendenz zum Föderalismus plötzlich umgekehrt. Da alles nach Zentralisierung strebt, als wäre sie ein Allheilmittel für die Eurokrise, taucht der Begriff »Subsidiarität« in Politikerreden nicht mehr auf. Stattdessen wird mehr Macht für Brüssel, und überhaupt »mehr Europa« gefordert, was in unserem Fall heißt: weniger Deutschland, weniger Baden-Württemberg oder Hamburg. Diese Entmachtung geschieht nicht plötzlich, sondern als schleichender Prozess nach dem berühmten Rezept, wie man einen Frosch kocht: Wirft man ihn in heißes Wasser, wird er schnellstmöglich wieder herausspringen. Setzt man ihn dagegen in Wasser, dessen Temperatur man langsam erhöht, wird er in der ansteigenden Hitze so erschlaffen, dass er, wenn es zu kochen beginnt, nicht mehr fliehen kann.
Genau so werden im Augenblick die europäischen Nationen in der Euro-Zone abgekocht. Dass sie ihre Souveränität verloren haben, werden sie erst merken, wenn es zu spät ist. Zwar lässt sich gegen eine Diskussion darüber, ob man die Vereinigten Staaten von Europa will oder nicht, nichts einwenden. Doch wird diese Diskussion nicht öffentlich geführt, sondern in Brüsseler Geheimverhandlungen der exklusiven Euro-Gruppe, in denen die Bedingungen für die nächsten, von der Zentrale zu organisierenden Bail-outs festgelegt werden. Mit dem Ergebnis wird die Öffentlichkeit dann ohne Einspruchsmöglichkeiten konfrontiert, und vor Verblüffung über die neuen unvorstellbaren Milliardensummen, mit denen hier jongliert wird, bleibt der Nebeneffekt, die Brüsseler Machterweiterung, unbemerkt.
Konkret bedeutet diese Selbstermächtigung Brüssels, dass immer weniger Menschen für immer mehr Menschen Entscheidungen treffen. Ein anderes Wort dafür ist »Entmündigung«. Und so wird der schleichende Einstieg in den Zentralstaat zum schleichenden Ausstieg aus der Demokratie. Gleichzeitig entstehen neue Gefahren: Wie will man die Zentrifugalkräfte beherrschen, die entstehen, wenn ein zentralistisches Europa entsteht, in dem 23 Sprachen gesprochen werden, wenn nicht einmal Belgien mit seinen »zweieinhalb« Sprachen (Flämisch, Französisch, Deutsch) zur Ruhe gekommen ist?
3. Der Abriss der Brandmauer
Ursprünglich
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