Die Evangelistin
worden war. Seine Hoffnung, ich würde ihn doch noch heiraten. Seine Freude, als er während der Sonntagsmesse in San Marco annahm, ich sei schwanger und wir könnten ein Kind haben. Und die Enttäuschung, als ich ihm sagte, dass ich an unserer innigen Freundschaft und unserer Liebe nichts ändern wollte.
»Liebe mich!«, hatte er geseufzt.
Und ich hatte ihn getröstet, zärtlich und leidenschaftlich. In meinen Armen war er endlich zur Ruhe gekommen.
Ich strich ihm über das Gesicht und küsste ihn. Er lächelte selig, doch er wachte nicht auf.
Ich ließ ihn schlafen, entwand mich behutsam seiner Umarmung, erhob mich und kleidete mich an.
Es war Pfingstsonntag. Tristan wollte die Messe in San Marco besuchen und den Tag mit mir verbringen.
»Wir haben uns in den letzten Wochen viel zu selten gesehen, mein Schatz«, hatte er letzte Nacht geflüstert. »Ich sehne mich nach dir. Am Sonntag ist keine Prozesssitzung. Ich kann also die ganze Nacht bei dir bleiben.«
Elija feierte das Wochenfest Schawuot und würde weder an diesem noch am nächsten Tag zu mir kommen. Schawuot war der Jahrestag der Offenbarung der Gebote an Moses. Elija würde einen feierlichen Gottesdienst in der mit Blumen geschmückten Synagoge halten und die ganze Nacht mit Jakob in der Tora lesen.
Die beiden Freunde wollten gemeinsam bis zum Morgengebet wachen, um eine uralte Schuld der Juden zu sühnen – während der Offenbarung an Moses war das Volk Israel in einen tiefen Schlaf gefallen. In dieser feierlichen Nacht soll zudem König David geboren und gestorben sein. Elija würde für die Ankunft des Messias aus dem Hause Davids beten.
In meiner Bibliothek verbarg ich Elijas hebräische Übersetzung, die griechischen Evangelien, Shemtovs Prüfstein und den aramäischen Papyrus in einer verschließbaren Truhe.
Tristan wusste von Menandros, dass ich einen Rabbi Griechisch lehrte und er mich Hebräisch – dass Elija und ich uns jeden Tag trafen, hätte ich niemals vor ihm geheim halten können. Aber was die hebräischen Schriftstücke auf meinem Schreibtisch zu bedeuten hatten, konnte ich ihm nicht erklären.
Unter einem Berg von Büchern entdeckte ich den gekreuzigten Jesus, den ich am letzten Sabbat von der Wand genommen und verborgen hatte, als Elija zum ersten Mal zu mir gekommen war.
Selbstvergessen betrachtete ich den leidenden Christus, seinen nackten, gegeißelten, schmerzverzerrten Körper, die ausgebreiteten Arme, die ans Kreuz genagelten Hände, den zum Himmel gerichteten Blick.
Wenn sein ganzes Leben auf diesen Moment des Sterbens reduziert war und wenn das am Ende alles war, was von ihm blieb – ein Kreuz, ein zerbrochener Körper, ein letzter qualvoller Aufschrei –, konnte ich dann noch an diesen zu Tode gemarterten Christus glauben? Nein! Ich glaubte an den lebenden Jeschua, den jüdischen Rabbi. Ich glaubte an das, was er gelehrt hatte.
Mit dem Gekreuzigten im Arm stieg ich die Treppen hinunter in den Garten, um hinter dem Rosenbeet ein Loch auszuheben.
Ich zog die Nägel aus seinen Händen und Füßen und nahm ihn vom Kreuz, das ich zerbrach und in den Canalazzo warf. Dann wickelte ich die Figur in ein seidenes Tuch und begrub sie im Rosenbeet.
»Mögest du endlich Frieden finden!«, flüsterte ich und legte einen Stein auf das Grab.
»Celestina?«
Erschrocken fuhr ich herum: Menandros stand hinter mir. Er trug eine seiner orientalischen Roben, darunter war er nackt. Offenbar war er gerade erst aufgestanden. In der Hand hielt er einen gefalteten Zettel.
»Was tust du da?«, fragte er verwirrt und starrte auf den Stein im Rosenbeet.
»Ich habe nachgedacht«, sagte ich, während ich mich erhob.
Menandros wirkte verstört – wie vor einigen Tagen, als Giovanni Montefiore unerwartet im Palazzo erschienen war. Am nächsten Morgen hatte ich ihn zur Ca’ Venier geschickt, um herauszufinden, ob auch Tristan überwacht wurde. Auf dem Rückweg war Menandros vor Arons Kontor auf dem Rialto von einem spanischen Franziskanermönch, der Gottes Zorn auf alle Juden herabbeschwor, grob beschimpft worden. Der Mönch, von dem Elija mir zutiefst besorgt erzählt hatte, schleuderte Menandros in seinem Zorn die katholischen Bannflüche entgegen – er hatte die orthodoxe Soutane getragen.
Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Seit Tagen gehst du mir aus dem Weg, trägst dein Priestergewand und flüchtest dich in die Kirche, um zu beten. Was ist los mit dir?«
»Ich habe Angst um dich«, gestand er leise. »Furchtbare
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