Die Evangelistin
allen voran diesen fanatischen Mönch Fray Santángel, zur Ordnung zu rufen. Vergeblich!
Als Capo des Zehnerrates greift Tristan mit harter Hand durch, um den Staat zu schützen. Mit seiner Entschlossenheit macht er sich mächtige Feinde, die ihn skrupellos, selbstherrlich und machtbesessen nennen. Zaccaria Dolfin verglich Tristan vor einigen Tagen sogar mit Cesare Borgia, der in der Wahl seiner Mittel ja nicht gerade zimperlich war.«
»Das darf nicht wahr sein!«
»Dolfin will ihn stürzen, weil er zu mächtig geworden ist. Tristan muss handeln. Die innere Sicherheit der Republik Venedig und die Wahrung der Verfassung ist die Aufgabe des Consiglio. Tristan muss die Macht und das Ansehen der Zehn und seine Autorität als Ratsvorsitzender beweisen. Er muss Ibn Ezra opfern.
Das Tragische daran ist, dass er mit diesem ungerechtfertigten Todesurteil zu eben jenem skrupellosen, selbstherrlichen und machtbesessenen Gewaltherrscher wird, als den ihn Zaccaria Dolfin und sein Freund Antonio Tron bezeichnen.«
Ich atmete tief durch. »Und was hast du ihm geraten, Leonardo?«
»Ich sagte zu ihm: ›Ein Doge muss nicht nur Entscheidungen treffen, die seinem Amt angemessen sind, sondern auch solche, die er vor sich selbst rechtfertigen kann‹.«
»Und was hat Tristan darauf geantwortet?«
»Nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hatte, wollte er heute in Ruhe mit dir darüber sprechen.«
Um Himmels willen!, dachte ich. Und dann noch jener Zettel an meiner Tür!
»Er hat dich also nicht um deinen Rat gefragt?«
Ich schüttelte stumm den Kopf.
»Warum bist du dann zu mir gekommen, Celestina? Du sagtest, du wolltest mit mir reden.«
Sollte ich Leonardo von dem Zettel erzählen? Sollte ich ihm noch mehr Sorgen machen, noch mehr Angst um Tristan und um mich? Nein, das wollte ich ihm nicht antun! Und doch durfte ich ihm die Wahrheit – oder das, was ich daraus gemacht hatte – nicht vorenthalten. Er war der Einzige, der mir helfen konnte!
Ich zog den Zettel aus dem Ärmel, den ich vor einer Stunde geschrieben hatte.
Die Handschrift ›So che hai fatto‹ und der temperamentvolle Schnörkel über dem Buchstaben i waren mir seltsam vertraut erschienen, obwohl die Schrift verstellt war.
Als Humanistin, die gewohnt ist, Griechisch und Arabisch zu schreiben, war es mir nicht schwer gefallen, auf einem neuen Blatt Papier die Handschrift zu imitieren und aus dem ›So che hai fatto‹ ein ›So che avete fatto‹ zu machen.
Leonardo nahm mir das Blatt aus der Hand und entfaltete es. »›Ich weiß, was ihr getan habt‹«, las er vor.
»Dieser Zettel hing heute Morgen an meiner Tür«, log ich.
»Um Gottes willen! Weiß Tristan davon?«
»Nein, Leonardo. Ich wollte erst mit dir darüber sprechen …«
Das bedrohliche ›Ich weiß, was du getan hast‹ hätte ich Tristan niemals zeigen dürfen, wenn ich Elijas Leben schützen wollte!
»… und, ehrlich gesagt, bin ich nicht sicher, ob ich ihn angesichts der Vorwürfe, die Zaccaria Dolfin gegen ihn erhebt, überhaupt damit beunruhigen soll. Der Zettel wurde nicht in eine Bocca di Leone geworfen, wie der letzte, von dem du mir am Himmelfahrtstag erzählt hast. Eine offizielle Anklage gegen Tristan oder mich ist also wieder nicht beabsichtigt.«
Der Doge nickte zustimmend.
»Der Mordanschlag auf mich konnte bisher nicht aufgeklärt werden. Die Assassini sind alle tot. Wer auch immer mir nach dem Leben trachtet, konnte bisher nicht gefasst werden. Er wird wieder zuschlagen, da das erste Attentat auf so groteske Weise gescheitert ist: Die Assassini sind tot, das Opfer lebt!
Leonardo, ich brauche deine Hilfe!«, flehte ich ihn an. »Die Ca’ Venier und die Ca’ Tron werden von mehreren Männern überwacht. Tristan und ich können keinen Schritt tun, ohne verfolgt zu werden.«
»O Gott, nein!«, stöhnte er.
»Ich bitte dich, die Agenten des Zehnerrates diskret feststellen zu lassen, wer uns überwachen lässt.«
Er nickte. »Hast du einen Verdacht?«
»Nein«, gestand ich. »Du hast doch selbst gesagt, wie viele einflussreiche Feinde sich Tristan im Senat gemacht hat. Zähl noch die Neider hinzu, die ihm seinen kometenhaften Aufstieg, seinen Reichtum, seine Macht und sein Liebesglück nicht gönnen.
Und vergiss nicht deine eigenen Feinde! Der Prokurator Antonio Grimani und sein Sohn, Kardinal Domenico Grimani, dann mein geliebter Cousin, der Prokurator Antonio Tron, und sein Freund, der Savio Grande Zaccaria Dolfin! Sie alle sind nicht immer einverstanden mit
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