Die Evangelistin
Angst.«
»Wovor fürchtest du dich?«
Wortlos reichte er mir den Zettel.
»Was ist das?«, fragte ich verwirrt, während ich ihn entfaltete.
»Ich bin sehr früh aufgewacht. Während ich auf meinem Bett lag, dachte ich, ich hätte im Garten ein Geräusch gehört. Also bin ich aufgestanden und habe nachgesehen. Dieser Zettel hing am Portal.«
Meine Finger zitterten, als ich die Worte las:
»So che hai fatto – Ich weiß, was du getan hast.«
Wie wird er reagieren?, fragte ich mich, während ich zur Piazza San Marco ritt. Vor einigen Tagen hatte er sehr ernsthaft mit mir gesprochen und mich angefleht, vernünftig zu sein. Er war entsetzt gewesen, als er von dem Attentat auf mich erfuhr. Und nun dieser Zettel! Er würde zutiefst besorgt sein. Sein schwaches Herz würde ihn dem Grab einen Schritt näher bringen. In den letzten Jahren hatte er schon genug gelitten.
Durfte ich ihm den Zettel zeigen – meinen gefälschten Zettel, nicht den, der heute Morgen an meiner Tür gehangen hatte? Aber ich hatte keine andere Wahl! Ich musste es tun. Wer konnte mir denn helfen, wenn nicht er?
›So che hai fatto!‹
Die Handschrift war mir so seltsam vertraut erschienen, während ich vorhin …
Ich erschrak, als ich mein Pferd auf die Piazza lenkte.
Zu dieser frühen Morgenstunde war der weite Platz fast menschenleer – bis auf eine Gruppe von drei Männern an den Arkaden der Prokuratien. Wie so oft an christlichen Feiertagen gingen zwei Venezianer auf einen Juden los, der mit dem Tallit über der Schulter die Fondamenta Orseolo entlanggekommen war. Offenbar war er auf dem Heimweg von der Synagoge, wo er nach der Tikkun-Schawuot-Nacht sein Morgengebet gehalten hatte.
Die beiden Christen schlugen auf den Juden ein, den verfluchten ›Gottesmörder‹, der den linken Arm hochgerissen hatte, um sich vor den brutalen Schlägen und Tritten zu schützen. Der rechte Arm hing wie gelähmt herab. Das Gesicht des Juden konnte ich nicht sehen, weil er den Kopf gesenkt hielt, aber ich erkannte ihn trotzdem: Es war Jakob!
Trotz des sonntäglichen Reitverbotes auf der Piazza lenkte ich mein Pferd im scharfen Galopp auf die Kämpfenden zu und hieb mit meiner Reitgerte auf die beiden Angreifer ein, die sofort von Jakob abließen.
Ich sprang vom Pferd und half ihm auf die Beine.
»Was hat dieser Mann getan, dass Ihr ihn verprügelt?«, fragte ich scharf.
»Er ist ein verdammter Jude!«
»Er ist ein Venezianer – wie Ihr und ich«, belehrte ich den Mann. »Im Übrigen hatte ich nicht gefragt, was er ist, sondern was er getan hat.«
»Heute ist Pfingstsonntag! Er entehrt einen christlichen Feiertag, wenn er …«
»Heute ist Schawuot«, fuhr ich ihm in die Parade. »Die Juden feiern den Tag, an dem Moses die Zehn Gebote erhielt. Falls Euch entfallen sein sollte, was Gott in den Zehn Geboten von den Menschen – Christen wie Juden – fordert: Du sollst deinem Nächsten keinen Schaden zufügen!«
»Aber …«
»Und Jesus sagte: ›Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du‹!«
»Dieser Jude ist nicht mein Nächster!«
»Doch, das ist er!«, entgegnete ich.
In seinem Zorn ging einer der beiden Venezianer erneut auf Jakob los und warf ihn zu Boden.
»Lasst ihn in Ruhe!«, schrie ich. »Die gewalttätige Belästigung eines venezianischen Bürgers ist ein Fall für den Zehnerrat, der für die Sicherheit des Staates verantwortlich ist. Wenn Ihr gegen diesen Mann oder gegen einen anderen Juden die Hand erhebt, klage ich Euch vor dem Consiglio dei Dieci an.«
Der Hieb saß!
Erschrocken ließ der Mann von Jakob ab, der keuchend zu Boden sank.
»Aber der Jude hat kein Bürgerrecht«, begann der andere.
»Verschwindet!«, fuhr ich die beiden an, die so schnell wie möglich abzogen.
Ich kniete mich neben Jakob.
»Wie geht es dir?«, fragte ich besorgt und untersuchte den Riss auf seiner Wange. »Hast du Schmerzen? Soll ich dich zu David bringen?«
»Nein, es geht schon.« Mit dem Handrücken wischte er sich über die blutende Wange. Ich zog das Tränentuch aus meinem Ärmel und presste es auf die Wunde, die der Ring eines der Angreifer aufgerissen hatte.
Jakob ließ es geschehen, obwohl es ihm sichtlich unangenehm war, dass ich mich um ihn sorgte. Wegen Elijas Liebe zu mir und unserer gemeinsamen Arbeit hatte er sich am Schabbat mit seinem Freund so laut gestritten, dass ich seine zornigen Worte auf der Treppe hören konnte.
»Danke«, murmelte er schließlich, ohne mich anzusehen.
Schweigend reichte ich ihm die Hand, um
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