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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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deiner Politik gegenüber dem Sultan, dem Papst und dem Kaiser. Tristans Sturz würde auch dir schaden, Leonardo!«
    Der Doge nickte stumm.
    »Am nächsten Sonntag findet im Palazzo Ducale ein großes Bankett statt, zu dem die Würdenträger der Republik eingeladen sind …«
    »Was hast du vor?«
    »Ich will die Konstellation der Spielfiguren auf dem Spielbrett der Macht verschieben«, verriet ich ihm. »Ich weiß, dass die Einladungskarten längst verschickt sind, doch ich bitte dich, noch jemanden zu diesem Fest einzuladen.«
    »Wen?«
    Ich sagte es ihm.
    Leonardo war schockiert, verschonte mich jedoch mit einem entrüsteten »Das kann ich nicht tun!«.

    Mit zitternden Händen schob ich den Schlüssel in das Schloss.
    War da nicht ein Geräusch gewesen? Hinter mir, auf der Treppe?
    Ich hielt den Atem an und lauschte.
    Stille.
    Niemand hatte mich bemerkt.
    Vorsichtig drehte ich den Schlüssel, vermied das knirschende Geräusch im Schloss, indem ich mich gegen die Tür lehnte, und öffnete sie, um das ›Königreich der Himmel‹ zu betreten.
    So früh am Morgen war es noch dunkel in der großen Dachkammer.
    Langsam schlich ich zwischen den Truhen hindurch.
    Welches Buch sollte ich mitnehmen? Bei meinem Aufbruch hatte ich Menandros gebeten: »Sag Tristan, sobald er erwacht, dass ich vor der Sonntagsmesse nur schnell ins ›Königreich der Himmel‹ gegangen bin, um ein Buch zu holen, das ich für meine Arbeit brauche.« Denn wie hätte ich Tristan sonst meinen Besuch im Dogenpalast erklären sollen?
    Auf der geschlossenen Büchertruhe lag Eusebius’ Kirchengeschichte . Elija und ich hatten das Buch dort zurückgelassen, als wir kurz nach Tristans unerwartetem Erscheinen vor der Tür der Dachkammer geflüchtet waren.
    Trotz der Gefahr der Entdeckung nahm ich das Buch mit.

    Mit kratzender Feder schrieb Elija seine hebräische Übersetzung der Geschichte von der Heilung des Sohnes des Centurios aus Kafarnaum nieder.
    Als ich das achte Kapitel des Matthäus-Evangeliums durchblätterte, sah Menandros auf. Er saß uns gegenüber am Schreibtisch.
    Auf meinen Wunsch kopierte er das unvollendete Manuskript meines Vaters über das Leben von Megas Alexandros in seiner schönen griechischen Handschrift in ein in kostbares Leder gebundenes Notizbuch. Das Buch hatte ich am Morgen im Laden des vor wenigen Wochen verstorbenen Druckers Aldo Manuzio am Campo di Sant’ Agostin gekauft.
    Aldo war ein guter Freund meines Vaters gewesen – von jedem Buch, das jemals in seiner berühmten Druckerei aufgelegt worden war, befand sich ein Exemplar in meiner Bibliothek.
    Nach meiner Rückkehr hatte ich Menandros gebeten, mit Elija und mir in der Bibliothek zu arbeiten. In den letzten Tagen, seit der Zettel an meiner Tür gehangen hatte, war er sehr still gewesen. Meine Bitte hatte ihm ein Lächeln auf die Lippen gezaubert – das erste seit dem Attentat auf mich.
    Ich erwiderte Menandros’ Blick, dann vertiefte ich mich wieder in das Evangelium.
    Noch nie zuvor war mir aufgefallen, dass Matthäus Jeschuas Wunderheilungen in zwei Kapiteln zusammengefasst hatte: die Heilungen von Blinden, Stummen, Gelähmten, Besessenen und Aussätzigen.
    »Glaubst du, dass Jeschua eine Ausbildung als Arzt hatte?«, fragte ich Elija nachdenklich.
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, er war Rabbi und kein Medicus.«
    »Aber wie konnte er dann heilen?«
    »Er konnte es nicht. Die Menschen sind nicht geheilt worden, weil er sie wie ein Medicus behandelt hätte. Sie haben die Zizit, die Merkfäden seines Tallit, berührt und genasen von ihren Leiden. Ihr Glaube hatte sie gerettet und geheilt – so steht es in den Evangelien. Ihr Glaube an den Maschiach.«
    »Das verstehe ich nicht«, gestand ich.
    Elija wischte sich die tintenschwarzen Finger an einem Tuch ab.
    »In den Büchern Mosche, den Propheten Jesaja, Jeremia und Daniel und den Psalmen gibt es viele Messiasprophezeiungen*, die der Maschiach erfüllen muss.
    Er muss ein Nachkomme und Thronerbe des Königs David sein, ein Sohn Gottes. Er muss von einer jungen Frau – keiner Jungfrau! – in Betlehem geboren sein, er muss von einem messianischen Vorgänger wie Johanan dem Täufer angekündigt und mit dem Geist Gottes gesalbt werden, er muss in Galiläa wirken, liebevoll und mitfühlend sein und Kranke heilen – und das soll er zudem im Verborgenen tun. Daher Jeschuas Schweigegebote nach den Wunderheilungen – die angesichts der Menschenmengen, die sich um ihn drängten, völlig unsinnig

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