Die Evangelistin
Frühjahr gefeiert wird. Außerdem sind sich die Evangelisten völlig uneinig, an welchem Tag denn nun diese Feier stattgefunden haben soll. Die Problematik der Datierung des Abendmahls, vor oder nach Beginn des ersten Festtages, mit oder ohne rituell geschlachtetem Pessachlamm, mit oder ohne Mazzot, ist ein unentwirrbarer Gordischer Knoten, der sich ganz einfach zerhauen lässt: Es war kein Sedermahl.«
Menandros blickte mich ungläubig an. »Du meinst …«
»Ich meine, dass das Mahl am Abend des siebten Tages des Laubhüttenfestes stattfand, bevor Jeschua am achten Tag zur Hakhel-Zeremonie in den Tempel ging. Die Evangelisten haben es ein halbes Jahrhundert später zum Abschiedsmahl umgedeutet und dramatisch inszeniert. Celestina hat ja vorhin ausgeführt, dass die Evangelisten die mündliche Überlieferung zurechtredigiert haben, um ihre eigenen Theologien niederzuschreiben. Um der Pessachlamm-Symbolik willen haben sie das Abendmahl und alle nachfolgenden Ereignisse wie die Festnahme, den Prozess und die Kreuzigung auf das Fest im Frühjahr verschoben. So wurde Jeschua das Opferlamm, das Agnus Dei.« Dann fügte ich hinzu: »In orientalischen Mythen findet die Auferstehung von Göttern übrigens immer im Frühling statt, niemals im Herbst.«
Menandros überlegte kurz. »Dann wäre das Abendmahl identisch mit jenem Abendessen im Hause von Schimon dem Essener?«
»Ja, das glaube ich.«
»Aber die Mazzot und der Wein«, protestierte er. »Das spricht doch für den Sederabend!«
Menandros, kannst du die ganze Wahrheit wirklich ertragen?
»Auf den ersten Blick: ja!«, gestand ich schließlich. »Aber wenn du, wie ich, mit deiner Familie das Sedermahl gehalten hast … wenn du am Vortag das Gesäuerte feierlich ausgeräumt und das besondere Pessach-Geschirr für Milch- und für Fleischspeisen hervorgeholt hast … wenn du dich tagelang auf das Festessen gefreut hast … wenn du als Kind deinem Vater still zugehört hast, wie er am Sederabend feierlich die Haggada, die Geschichte vom Exodus der Kinder Israels aus Ägypten, erzählt hat … wenn du ein Stück der Mazza versteckt hast, weil das zum Ritual der Sedernacht gehört … wenn drei Mazzot im Korb auf dem Tisch lagen, nicht eine Mazza … wenn du aus vier Bechern – nicht einem ! – Wein getrunken und einen fünften Becher für den Propheten Elija eingeschenkt hast, der in der Sedernacht durch die geöffnete Tür in jedes Haus kommen soll … und wenn du als Kind spät nachts ungeduldig und ein wenig ängstlich hinter der geöffneten Haustür auf ihn gewartet hast und jeden leisen Windhauch für sein Kommen hieltest … dann fragst du dich, ob dieses Mahl, das die Evangelien in nur wenigen Zeilen beschreiben, wirklich ein Sedermahl war – das schönste aller Familienfeste mit Frauen und Kindern und guten Freunden, die gemeinsam feiern.
In den Evangelien lese ich nichts von einem Besuch in der Synagoge oder dem Tempel vor dem Sedermahl. Wo sind die Frauen und die Kinder? Wo sind die Freunde? Kein Wort von einem Kiddusch über dem ersten Becher Wein vor dem Mahl. Ich höre nicht die Haggada, die Erzählung vom Auszug aus Ägypten, und ihre Deutung durch Jeschua als die Befreiung und der Beginn unserer Geschichte als das Volk Israel. Niemand stellt die traditionelle Frage: ›Warum unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?‹ Ich höre die Feiernden keine Psalmen singen. Ich sehe auf dem festlich gedeckten Sedertisch kein Pessachlamm und keine symbolischen Speisen wie die Bitterkräuter oder den Meerrettich zum Gedenken an die bittere Knechtschaft in Ägypten, kein Mus aus Äpfeln, gehackten Mandeln und Rosinen zur Erinnerung an den Lehm, aus dem die Israeliten in Ägypten die Ziegel formten. Auch die Schüssel mit Salzwasser, dem Symbol der vergossenen Tränen, wird nicht erwähnt. Jeschua tauchte zwar gleichzeitig mit Jehuda die Hand in eine Schüssel, doch was er aß, erfahren wir nicht – war es ein Stück der Mazza, des ›Brotes der Freiheit‹? Nein, dieses Mahl war ganz sicher keine Sederfeier!«
Menandros stöhnte auf, als fügte ich ihm Schmerzen zu. Ich schob ihm das aufgeschlagene griechische Markus-Evangelium hinüber und wies auf den Text: »Lies!«
Er nahm das Buch und begann: »›Und am ersten Tag des Festes der ungesäuerten Brote, als man das Pessachlamm schlachtete, sagen seine Jünger zu ihm: Wohin willst du, dass wir gehen und alles vorbereiten, damit du das Pessachmahl essen kannst? Und er sendet zwei seiner
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