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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Jünger und spricht zu ihnen: Geht in die Stadt, und es wird euch ein Mensch begegnen, der einen Krug Wasser trägt. Folgt ihm! Und wo er hingeht, sprecht zu dem Hausherrn: Der Lehrer sagt: Wo ist mein Gastzimmer, wo ich mit meinen Jüngern das Pessachmahl essen kann? Und er wird euch einen großen Raum oben im Haus zeigen, mit Polstern ausgelegt und vorbereitet. Und dort bereitet es für uns!‹« Menandros hob den Blick und sah mich an. »Wer ist der Mann mit dem Wasserkrug?«
    »Ein Essener«, erklärte ich. »Das Wasserholen am Brunnen war Frauensache. Doch Essener waren häufig nicht verheiratet und mussten selbst am Brunnen Wasser holen. Der Mann mit dem Wasserkrug ist ein Symbol für einen Essener – denn wenn Markus an dieser Stelle, wie in seiner Schilderung der Salbung anlässlich des Abendessens, von Schimon dem Essener gesprochen hätte, wäre die Verschiebung des Mahls von Sukkot auf Pessach sofort aufgefallen. Beide Abendessen fanden aber im Haus von Schimon dem Essener statt. Und, wie ich annehme, an demselben Tag, dem siebten Tag von Sukkot.«
    Menandros nickte langsam. »In einer Laubhütte?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Die Sukkot-Hütten werden am Abend des siebten Tages Hoschana Rabba abgebaut. Im Sommer nahmen die Juden die Mahlzeiten gern draußen ein, entweder im Hof des Hauses oder auf dem flachen Dach. Nur die Wohlhabenden, die in römischen Villen wohnten, besaßen auch ein Triklinium mit Tischen und Liegen. Am nächsten Tag, Schemini Atzeret, verlas Jeschua anlässlich der Hakhel-Zeremonie im Tempel das Königsgesetz.«
    »Es war also wirklich Sukkot«, murmelte Menandros.
    »Davon bin ich überzeugt«, bekräftigte ich. »Als wir vor einigen Tagen über die Salbung sprachen, habe ich erklärt, dass die Szene in Schimons Haus keine Salbung für ein Begräbnis sein kann, trotz des Kusses, trotz der symbolischen Waschung durch die Tränen und trotz des Salböls aus indischer Narde.«
    Als er nickte, fuhr ich fort:
    »Der Friedenskuss durch den Gastgeber, die Fußwaschung und die Salbung des Gastes mit kostbarem Öl sind jüdische Tischsitten – wie übrigens auch der Segen über Brot und Wein. Der Kiddusch gehört zu allen jüdischen Festen, zu Pessach ebenso wie zu Sukkot. Als Darreichung von Leib und Blut kann er nicht gedeutet werden – Jeschua wäre entsetzt, wenn er wüsste, wie sein feierlicher Kiddusch über Brot und Wein mystifiziert worden ist.
    Die Sitzordnung bei Tisch war sehr streng. Am Ehrentisch lagen Polster für drei Speisende. Der Platz gegenüber blieb für die Bedienung frei. Der zweite Ehrenplatz befand sich wie bei den Römern rechts vom Gastgeber. Deshalb schreibt der Evangelist Johannes, dass der Lieblingsjünger, Mirjams Bruder Eleasar, an Jeschuas Brust ruhte. Der erste Ehrenplatz war links vom Gastgeber – und dort lag jener Mann, mit dem Jeschua die Hand in die Schüssel tauchte.«
    »Jehuda?«, fragte Celestina verblüfft, offensichtlich noch ganz gefangen in der christlichen Vorstellung, Jeschua und seine Gefolgsleute hätten an einer langen Tafel gespeist – mit weißem Tischtuch, Silberbesteck und Weingläsern aus Murano.
    »Jehuda hatte den Ehrenplatz an Jeschuas Seite«, nickte ich. »Die anderen Tische, an denen jeweils sechs oder sieben Personen speisten, standen ein wenig entfernt. Der Gastgeber bediente seine Gäste und zeichnete sie auf diese Weise aus. Während jenes Festmahls reichte Jeschua seinem Bruder ein Stück Brot.«
    »Seinem Bruder?«, stieß Menandros hervor.
    »Ich glaube, dass Jehuda Sicarius sein Bruder war.«
    »Aber er hat ihn doch verraten!«, rief Menandros aus.
    »Nein, das hat er nicht !«, widersprach ich. »Er ist – wie übrigens Jeschuas gesamte Familie: sein Vater Joseph, seine Mutter Mirjam, seine Brüder Jakob, Jehuda und Schimon –, Opfer von Verleumdungen durch die Evangelisten geworden …«
    »Was?«
    »Sein Vater Joseph ha-Zaddik, der vielleicht wie Jeschua am Kreuz starb, wurde von den Evangelisten totgeschwiegen – nach der Bar-Mizwa seines Sohnes wird er nicht mehr erwähnt. Spätere christliche Legenden haben aus ihm einen alten Mann gemacht, zu alt, um mit der Jungfrau Mirjam einen Sohn zeugen zu können, zu unverständig und zu dumm, um die Verkündigung des Engels zur Geburt des göttlichen Kindes begreifen zu können.
    Und Mirjam? Ihr wurden alle Freuden der Liebe genommen, als sie durch einen heiliggesprochenen Übersetzungsfehler zur ewigen Jungfrauenschaft verdammt wurde. Und dann wurden ihr auch noch

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