Die Evangelistin
flüsterte ich.
»Er sagte, er wolle sich Gott weihen.«
Ich setzte mich auf. »Ich muss mit ihm reden …«
Tristan hielt mich fest. »In Florenz haben wir uns geschworen, einander niemals die Freiheit zu nehmen«, erinnerte er mich. »Darum bitte ich dich: Nimm ihm jetzt nicht seine Freiheit und seine Selbstbestimmung. Respektiere seine Entscheidung!«
In aller Eile stopfte ich das Hemd in die enge Hose und zog eine schwarze Samtjacke über. Dann schlich ich zur Treppe und horchte in die Finsternis – aber alles war ruhig.
Tristan war um Mitternacht zu einer Sitzung des Zehnerrats aufgebrochen. »Es tut mir Leid, dass ich dich heute Nacht allein lassen muss, doch als Vorsitzender des Consiglio dei Dieci muss ich an dieser Beratung teilnehmen. Der Mörder des kleinen Moses Rosenzweig wird heute Nacht zum Tode verurteilt. Ich verspreche dir, ich werde nach der Sitzung so schnell wie möglich zu dir kommen und nach dir sehen«, hatte er geflüstert und mir ein »Ich liebe dich!« auf die Lippen gehaucht. Dann war er gegangen.
Und ich hatte stundenlang schlaflos auf dem Bett gelegen.
Elija war zu Tristan gegangen und hatte ihn um Vergebung angefleht. Ich hatte doch die Schuld auf mich geladen, nicht er!
Leise huschte ich die Stufen hinunter. Vor Menandros’ Schlafzimmer hielt ich inne. Die Tür war offen, und ich trat ein.
Menandros hatte das Gesicht im Kopfkissen vergraben. Seine Hand umklammerte das vergoldete Bild von Iesous Christos, das er gemalt hatte.
Seit Elija ihm seinen Glauben fortgerissen hatte, seine Heilsgewissheit und den Sinn seines Lebens als orthodoxer Priester, war Menandros traurig und verzweifelt. Er betete sehr viel, zog sich in sich selbst zurück und dachte nach. Iesous Christos war ihm zeit seines Lebens ein Vorbild gewesen, die goldschimmernde Ikone des vollkommenen Menschen, der Menandros so gern sein wollte.
Er fürchtete sich vor der Einsamkeit, vor dem inneren Schweigen und dem lähmenden Schmerz eines erfrorenen Herzens. Und er sehnte sich so sehr nach Liebe und Geborgenheit! Der Berg Athos, einst das Ziel seiner Sehnsucht, wäre jetzt die Hölle für ihn gewesen.
Ganz sachte zog ich das zerwühlte Laken über seinen nackten Körper und deckte ihn zu.
Dann schloss ich leise die Tür hinter mir, schlich die Treppe hinunter und huschte durch das Portal hinaus auf den nächtlichen Campo. Durch die Finsternis – die Fackeln waren schon vor Stunden gelöscht worden – rannte ich zur Kirche San Stefano hinüber. Über den schmalen Rio eilte ich weiter zum Campo San Angelo.
Beinahe wäre ich einem Signor di Notte in die Arme gelaufen!
Ich hielt den Atem an und drückte mich an die Backsteinfassade der Augustinerkirche. Er schlenderte in Richtung des Campo San Luca. Ich konnte weder an ihm vorbeischlüpfen noch ihm folgen. In der schmalen Gasse, wo vor einigen Wochen das Attentat auf mich verübt worden war, hätte er mich bemerkt!
Was sollte ich tun?
An der Kirchenfassade entlang lief ich in eine dunkle Calle, die nach Osten führte. Rechts über eine schmale Brücke, dann links über einen kleinen Campiello, vorbei an einer Kirche und über einen Rio in Richtung Piazza San Marco. An der Fondamenta Orseolo entlang rannte ich keuchend nach Norden, in die Gasse, die zum Campo San Luca führte.
Vorsichtig spähte ich um die Ecke: Der Signor di Notte war nirgendwo zu sehen. Kein Feuerschein. Keine Schritte. Alles blieb ruhig.
Erleichtert atmete ich auf, trat aus den Schatten und sah an der Fassade von Elijas Haus empor zu seinem Schlafzimmerfenster.
Kein Licht – alle schliefen.
Ich schlich hinüber zur Haustür und klopfte. Während ich wartete, dass mir geöffnet wurde, strichen meine Finger über die Mesusa rechts neben der Tür. Darin eingefaltet lag ein Pergament mit dem Schma Israel: ›Höre Israel: Adonai ist unser Gott, Adonai unser Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.‹
Was hatte Elija gemeint, als er zu Tristan sagte, er wolle sich Gott weihen?
Mit beiden Fäusten trommelte ich gegen die Tür. Dann trat ich einen Schritt zurück, damit ich von den Fenstern aus gesehen werden konnte.
In Davids Schlafzimmer wurde Licht gemacht.
Dann öffnete er das Fenster, um zu sehen, wer mitten in der Nacht gekommen war. Gab es einen Notfall? Lag eine junge Frau in den Wehen? War ein Jude blutig geprügelt worden?
Ich sah zu ihm hoch: Hatte David gestöhnt, als er mich
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