Die Evangelistin
…
Tristan konnte keine Kinder zeugen!
Elija war der Vater dieses Kindes!
Bestürzt barg ich mein Gesicht in den Händen.
Elija hatte sich so sehr einen Sohn gewünscht! Einen kleinen Netanja, der die Dynastie der Ben Davids fortsetzen konnte. Aber das Kind war nicht legitim, denn wir waren nicht verheiratet. Und nach dem jüdischen Gesetz war es kein Jude, denn seine Mutter war nicht jüdisch.
David ahnte, was in mir vorging. »Elija wird sich sehr freuen! Sein Herzenswunsch geht in Erfüllung.«
Sollten mich seine Worte trösten?
»David, du wirst Elija nichts von seinem Kind erzählen!«
»Aber …«
»Ich will, dass Elija zu mir zurückkehrt, weil er mich liebt. Er soll nicht wegen des Kindes sein Naziratsgelübde brechen oder irgendetwas tun, das gegen sein Gewissen oder seinen jüdischen Glauben verstößt. Versprich es mir!«
»Celestina, was verlangst du von mir?«, rief er.
»Versprich es mir!«
»Ich verspreche es!«, murmelte er resigniert. »Ich werde ihm nichts sagen.«
»Tristan wird dem Kind ein wundervoller Vater sein«, versicherte ich David, der mich bedrückt ansah. »Er wünscht sich einen kleinen Alessandro.
Und selbst wenn Tristan irgendwann dahinterkommt, dass Alessandro nicht sein Sohn ist – denn wir werden nur dieses eine Kind haben können! –, wird er Alessandro doch lieb haben. Auch wenn er weiß, dass sein Sohn und Erbe Elijas Kind ist.«
Während der nächsten Tage wartete ich, dass Elija zu mir zurückkehrte. Aber er kam nicht.
Trotz seines gequälten Gewissens hatte David Wort gehalten.
Und so machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, Tristan zu heiraten und ihm in einigen Monaten den ersehnten Sohn zu schenken. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, denn Tristan hielt sich wegen des bevorstehenden französischen Italienfeldzugs fast ständig im Dogenpalast auf. Er nahm an endlosen Sitzungen des Consiglio dei Dieci teil, der für die venezianische Außenpolitik zuständig war, beriet sich mit den Condottieri, den Feldherrn der Republik, empfing den französischen Gesandten und den päpstlichen Legaten und wich Leonardo, der sehr krank war, nicht mehr von der Seite.
Ich sah Tristan nur spät nachts, wenn er erschöpft neben mir ins Bett fiel und sofort einschlief. Es gab keine Gelegenheit, über unsere Hochzeit zu sprechen oder ihm von meiner Schwangerschaft zu erzählen. Ich ahnte, was es bedeuten würde, vielleicht eines Tages mit dem Dogen von Venedig verheiratet zu sein.
Menandros erlitt Höllenqualen. Der in die Wahrheit Verliebte hatte die Wahrheit gefunden – und seinen Glauben verloren, der ihm sein Leben lang Geborgenheit geschenkt hatte.
Er war mir ein treuer Freund, obwohl ihm meine Entscheidung, Tristan zu heiraten, sehr wehtat – war sie doch das Ende seiner Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebe, die er seit seiner Kindheit so schmerzlich vermisste.
Stundenlang redeten wir über unsere Gefühle, unsere Hoffnungen und Ängste. Menandros fürchtete, dass Tristan ihn nach unserer Heirat und der Geburt des Kindes bitten würde zu gehen. Aber wohin sollte er gehen? Er wollte Venedig nie mehr verlassen.
»Celestina, du bist alles, was ich noch habe«, sagte er, und seine stille Traurigkeit rührte mich. »Alles habe ich verloren: meine Heimat, meine Familie, meinen Glauben, meine Liebe und …« Nach langem Zögern hatte er sich mir anvertraut: »… und den einzigen Freund, den ich jemals in meinem Leben hatte: Elija.«
Menandros gestand mir, wie sehr er ihn vermisste. Obwohl Elija ihm seine Heilsgewissheit fortgerissen hatte, empfand er sehr viel für ihn – und tiefe Reue über seine Tat.
»So vieles hat er mich gelehrt! Geduld, Achtsamkeit, Toleranz, Respekt, Vergebung. Er hat mir bedingungslos vertraut, obwohl er doch wusste, wie sehr ich dich liebe. Und wie habe ich es ihm vergolten? Ich habe Tristans Brief unter dein Kopfkissen gelegt, damit er ihn fand. Wie weh habe ich euch beiden damit getan!«, schämte er sich für sein Verhalten.
»In den letzten Tagen habe ich oft über Elijas Worte nachgedacht: ›Der Messias wartet auf dich, Menandros! Er wartet, dass du ihm hilfst, die Welt zu erlösen. Das Gottesreich fällt nicht vom Himmel – jeder von uns muss für den Frieden kämpfen.‹
Ich habe erkannt, dass ich nicht darauf warten darf, dass der Messias vom Himmel herabsteigt, um die Welt zu erlösen, sondern dass ich handeln muss – wie Jeschua als König, als Rabbi und als Mensch gehandelt hat. Die Erlösung findet nur in mir statt
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