Die Evangelistin
Tristan!
Bebend vor Enttäuschung und Wut stand er mit geballten Fäusten vor mir in der schmalen Gasse. »Lehre es mich, du großer Rabbi, denn ich kann für dich keine Liebe empfinden – nur Hass und Zorn!«
Er wirkte so erschöpft, als hätte er nächtelang kein Auge zugetan.
Celestina trat auf ihn zu. »Tristan, um Himmels willen …«
»Vor einer Stunde war ich bei dir. In den vergangenen Nächten hatte ich mich so nach dir gesehnt, aber du warst nicht da.« Er rang um Fassung. »Menandros hat mir verraten, dass ich dich hier finden würde. Mit ihm !« Tristan deutete auf mich. »Er sagte mir, dass Elija zu dir zurückgekehrt ist und dass ihr heiraten wollt. Stimmt das?«
»Ja, Tristan, das ist wahr. Elija und ich erwarten ein Kind.«
Ein verzweifelter Schrei entrang sich seiner Brust. Wie enttäuscht er sein musste! Er war derjenige, der keine Kinder haben konnte!
Zornig warf er sich auf mich und schlug mit den Fäusten auf mich ein.
An der Stirn getroffen taumelte ich gegen die Mauer der Synagoge und wäre beinahe gestürzt. Tristans Ring hatte eine Wunde gerissen. Das Blut rann mir ins Auge.
David und Aron eilten herbei, um mir zu helfen, doch ich hob die Hand und gebot ihnen, Ruhe zu bewahren. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn zwei Juden einen Consigliere dei Dieci verprügelten!
In seiner unbeherrschten Wut – ich wehrte mich ja nicht! – schlug Tristan immer weiter auf mich ein, um mich zu demütigen.
Zähneknirschend ertrug ich seine schmerzhaften Schläge und Tritte und fiel stöhnend auf die Knie.
Celestina versuchte schreiend, Tristan von mir wegzureißen – aber vergeblich! Brutal stieß er sie zurück. Sie stolperte, doch David fing sie auf. Judith nahm sie in die Arme und zog sie ein paar Schritte weiter. Sie war nicht verletzt.
Die Tritte in die Seite bereiteten mir furchtbare Schmerzen.
»Tristan«, keuchte ich, »du hast mich gefragt: Wie liebt man seine Feinde? … Ich sage dir: Tu Gutes denen, die dich hassen … Segne die, die dich verfluchen … Und bete für die, die dich misshandeln … Tristan, du tust mir …« Ich stöhnte vor Schmerz und wand mich auf dem Boden, als seine Faust mich in den Unterleib traf. Mit letzter Kraft wich ich einem weiteren Schlag aus und richtete mich auf.
Blut lief mir über das Gesicht und tropfte mir in die Augen.
»Du tust mir Leid, mein Freund.« Meine Lippen waren aufgerissen, und das Sprechen fiel mir schwer. »Denn du fügst dir selbst … in deinem Zorn … mehr Qualen zu als mir. Denn du bist schwach … und ich bin stark. Du kannst mich totschlagen, aber besiegen kannst du mich nicht!«
Rasend vor Zorn trat er mir ins Gesicht, um mich zum Schweigen zu bringen. Er traf mich an der Schläfe.
Hart schlug ich mit dem Kopf auf dem Boden auf und wurde ohnmächtig …
… und erwachte erst eine Stunde später.
»David, er ist wach!«, flüsterte Celestina.
Mein Bruder setzte sich neben mich auf das Bett. »Aron und ich haben dich ins Bett gebracht. Ich habe deine Wunden versorgt. Wie geht es dir?«
»Ich habe furchtbare Kopfschmerzen«, murmelte ich noch ganz benommen und tastete nach dem kühlen Tuch auf meiner Stirn.
»Mein Gott, was hat Tristan dir nur angetan!«, stöhnte mein Bruder. Aron trat neben ihn, den Tallit noch um die Schultern.
Hatte er gebetet?
Dann schwappte die Finsternis wie eine Meereswoge über mich hinweg und zog mich hinab in die Tiefe des Vergessens.
Als ich am späten Nachmittag erwachte, hatte Celestina schon gepackt. Die Pferde waren gesattelt, und das Boot, das uns zum Festland bringen sollte, lag im Rio di San Salvadòr vertäut.
»Wir gehen nach Rom!«, hatte sie beschlossen. »Elija, du hattest Recht, als du mir vor Wochen sagtest, der Vatikan sei ein angemessener Ort, um dein Evangelium zu schreiben. Gianni wird sich freuen, wenn wir ihn besuchen! Er wird dich vor Kardinal Cisneros beschützen.«
Tristan erwähnte sie mit keinem Wort.
Während der Abenddämmerung brachen wir auf. David, Aron und Menandros ruderten uns hinüber zur Terraferma und halfen uns, die Pferde an Land zu bringen und das Gepäck aufzuladen. Dann umarmten sie uns zum Abschied und wünschten uns »Schalom!« und »Masel tow – viel Glück!«. Winkend blickten sie uns nach, bis wir hinter dem Uferschilf verschwunden waren.
An diesem Abend ritten wir bis Padua und am nächsten Morgen weiter nach Ferrara, wo wir im Judenviertel neben der Kathedrale im Haus eines Rabbis sehr freundlich aufgenommen
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