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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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wurden.
    Über Bologna erreichten wir Florenz, wo wir beim Humanisten Giovanni Montefiore ans Tor klopften, um seine Gastfreundschaft zu erbitten.
    Vor seiner Taufe war Montefiore ein bekannter Rabbi gewesen. Als Converso wohnte er außerhalb des Judenviertels in einem großen Haus an der Via Larga, auf halbem Weg zwischen Lorenzo il Magnificos Palast und dem Kloster San Marco. Die jüdische Gastlichkeit hatte er jedoch nicht mit seinem Glauben abgelegt. Mit offenen Armen nahm er uns auf: »Solange Ihr wollt!«
    »Nur für eine Nacht!«, hatte Celestina entschieden, doch Giovanni schwärmte mir während des Abendessens von den Sehenswürdigkeiten von Florenz vor:
    »Michelangelos David müsst Ihr Euch unbedingt ansehen, Elija!« Doch er hatte ein noch besseres Argument: »In zwei Tagen ist der 9. Aw! Seid Ihr nicht an jenem Tag aus Spanien geflohen? Ihr wollt doch nicht den 9. Aw auf der Straße nach Rom verbringen! Ich bitte Euch, Elija: Bleibt in meinem Haus und ruht Euch aus.«
    Und so beschlossen Celestina und ich, vier Nächte in seinem Haus zu bleiben – der jüdische Trauertag Tischa be-Aw wird in der Diaspora zwei Tage lang gehalten.
    Giovanni hatte ein koscheres Mahl zubereiten lassen. Wir verbrachten einen vergnüglichen Abend mit gutem Essen, doch ohne Wein: Denn ich hatte ihm erzählt, dass ich mich Gott geweiht hatte und als Nazir auf den Genuss von Traubensaft verzichtete. Er hatte genickt und mir dann seine Gründe für den Übertritt zum Christentum erläutert. Ich mochte ihn – er war keiner jener Conversos, die nach der Taufe die Worte Nächstenliebe und Toleranz aus ihrem Wortschatz strichen.
    Nur zum Vergnügen und aus purer Lust am rabbinischen Wortgefecht disputierten Giovanni und ich den halben Abend über die Auslegung von Matthäus, Kapitel 1 Vers 21: ›Jesus wird sein Volk erretten von seinen Sünden.‹ Er schleuderte mir Worte der Propheten Joel, Micha und Ezra entgegen, die ich schlagfertig mit Zitaten aus dem Talmud konterte, während Celestina sich mühte, die Aussprüche von Rabbi Johanan und Rabbi Chijja ben Nechemja in meinem Talmud zu finden.
    O ja, wir hatten unseren Spaß!
    Am nächsten Morgen zeigte mir Celestina Michelangelos David vor der Loggia des Palazzo della Signoria. Lange stand ich vor der Marmorstatue, die meinen Vorfahren darstellen sollte, und betrachtete sie gedankenvoll.
    Zum ersten Mal suchte ich den verborgenen Sinn nicht in einem Buch wie der Bibel oder dem Talmud, sondern im Abbild eines nackten Menschen … und verstieß gegen Adonais Gebot. Aber ich konnte nicht anders! Davids kraftvolle Gestalt und sein zweifelnder Blick hatten mich in seinen Bann gezogen. Michelangelo hatte den Hirtenjungen aus Betlehem vor seinem Kampf mit dem bislang unbesiegten Goliath dargestellt: die Schleuder über der Schulter, den Stein in der Hand, die Muskeln angespannt.
    War ich nicht letztlich in derselben Situation wie David? Ich, der jüdische Rabbi, nur mit einer Schreibfeder bewaffnet, hatte den Kampf gegen einen übermächtigen Gegner aufgenommen: die Kirche. Während ich Davids zweifelnden Blick betrachtete, überlegte ich, was mich wohl in Rom und im Vatikan erwartete. Würde Kardinal Cisneros zum Konzil nach Rom kommen? Würden wir uns am Ende im Vatikan erneut gegenüberstehen? Konnte der Papst mich wirklich vor dem spanischen Großinquisitor schützen, dem mächtigen Vertrauten König Fernandos von Aragón? Und … wollte er es überhaupt?
    Celestina, die sehr feinfühlig spürte, was in mir vorging, zog mich mit sich fort. Nach einem Mittagessen im Judenviertel hinter der Kirche Orsanmichele gingen wir am Arno spazieren. Unter einem Feigenbaum im Garten der Kirche San Miniato al Monte genossen wir den Blick über Florenz mit Giottos Campanile und Brunelleschis Domkuppel im Licht eines atemberaubenden Sonnenuntergangs.
    An diesem Abend begann der 9. Aw. An jenem Tag war der Tempel in Jeruschalajim zwei Mal zerstört worden: erst durch die Babylonier, dann, sechshundertfünfzig Jahre später, durch die Römer. An jenem Tag hatte der Kaiser Hadrian beschlossen, Jeruschalajim in eine römische Stadt zu verwandeln. An jenem Tag war der Aufstand des Maschiach Bar-Kochba gegen die Römer endgültig gescheitert. Und an eben jenem Tag wurden die Juden aus Spanien verbannt. Der 9. Aw war für mich ein Symbol für unsere Vertreibung aus Granada, die furchtbaren Tage im Hafen von Málaga, unsere überstürzte Flucht durch ganz Al-Andalus, den Tod meines Vaters und meine Taufe

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