Die Evangelistin
Stellvertreter Christi. Seit seiner Wahl zum Pontifex schien ein Goldenes Zeitalter angebrochen zu sein: Der Papst, ein Brieffreund des Humanisten Erasmus von Rotterdam, unterstützte dessen Übersetzung der Evangelien und ermunterte sogar hebräische Studien im Vatikan.
»Celestina!«, strahlte der Papst und riss sie aus meinen Armen, um sie auf beide Wangen zu küssen. »Wie schön, dass du gekommen bist!«
»Ich freue mich auch, Gianni.«
Dann wandte er sich mir zu. »Und du bist Tristan«, vermutete er mit einem charmanten Lächeln und drückte auch mich an sein Herz, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, um seinen Irrtum aufzuklären.
»Gianni«, fiel Celestina ihm in den Arm. »Das ist nicht Tristan … das ist Elija.«
»Elija?«, murmelte der Papst erstaunt.
»Rabbi Elija Ibn Daud. Ein berühmter Schriftgelehrter aus Granada«, stellte Celestina mich dem Papst vor. Sie ergriff meine Hand und drückte sie. »Elija und ich sind verlobt. Wir erwarten ein Kind und werden bald heiraten.«
Der Papst war äußerst überrascht, das sah ich ihm an. Ein Jude? Ist er schon getauft? Doch dann trat ein warmherziges Lächeln auf seine Lippen. Die Frage nach Tristan schluckte er hinunter, als er mich erneut umarmte.
»Herzlich willkommen in der Familie Medici«, murmelte er und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. »Es würde mich freuen, euch beide in der Sixtina zu trauen.«
Offenbar nahm er an, wir wollten nach christlichem Ritus heiraten.
»Ich danke Euch …«, begann ich, und er lächelte über meine Schwierigkeiten, ihn ›Heiliger Vater‹ zu nennen – immerhin war er genauso alt wie ich.
»Gianni«, bot er mir ganz offenherzig das Du an. »Celestina nennt mich so, seit wir uns vor Jahren in Venedig kennen gelernt haben! Ich weiß nicht, warum du es als ihr künftiger Gemahl anders halten solltest.«
Dann bestürmte er uns mit Fragen: »Wie lange kennt ihr euch? Erst zwei Monate!« – »Woran arbeitet Ihr gemeinsam?« – »Wie lange wollt ihr in Rom bleiben?« – »Wo werdet ihr wohnen?« Großzügig bot er uns eine Wohnung im Vatikan an: »… bis ihr einen eigenen Palazzo und ein paar Diener habt. Solltet ihr meine Unterstützung benötigen, lasst es mich wissen.« Er zwinkerte mir fröhlich zu und scherzte: »Und sag mir Bescheid, falls du Kardinal werden willst.«
Gianni war, so schien es mir, ein glücklicher Mensch, der alles in seiner Macht Stehende tat, um auch andere glücklich zu machen. Mit einem so herzlichen Empfang im Vatikan hatte ich wirklich nicht gerechnet!
»Die Geschichte von Jesus Christus ist ein heilig gesprochenes Märchen«, erklärte der Papst eine Stunde später. »Ein Mythos von einem Gottessohn, der, indem er sich opfert, über den Tod triumphiert, das ewige Leben gewinnt und die Welt erlöst. Ein sehr fantasievolles Märchen!«
Während in den päpstlichen Privatgemächern das Abendessen aufgetragen wurde, hatte Gianni sich von unserer Übersetzung der Evangelien ins Hebräische und zurück ins Lateinische erzählen lassen. »Wie interessant!«, hatte er immer wieder ausgerufen und begeistert in die Hände geklatscht. Dann hatte ich ihm von dem Buch berichtet, das ich zu schreiben beabsichtigte und über dessen Thesen ich auf dem Laterankonzil disputieren wollte.
»Einen rabbinischen Kommentar zu den Evangelien?« Gianni hatte mir anerkennend lächelnd die Hand mit dem Fischerring auf den Arm gelegt. »Eine großartige Idee!«
Offenbar nahm der Papst an, dass dieses Werk eines berühmten Rabbi die Juden zum Glauben an Jesus Christus bekehren konnte!
Angelo, der mir während des Abendessens gegenüber saß, hatte die Stirn gerunzelt. Der Vertraute des Papstes war vor einigen Wochen zum Erzbischof ernannt worden. Vor seiner Taufe war Mariettas Bruder Rabbi in Florenz gewesen – die Halevis waren eine Dynastie von Schriftgelehrten.
Er musterte mich so gedankenvoll und so ernst, dass ich mich fragte, was Marietta ihm über mich geschrieben hatte. Angelo war überrascht, ja geradezu erschrocken gewesen, als er von meiner Ankunft in Rom erfuhr. Aber warum? Was wusste er über Elija Ibn Daud? Und was über Juan de Santa Fé?
Morgen würden wir über Mariettas und Arons Hochzeit an Weihnachten in Venedig sprechen.
»Die Geschichte von Jesus Christus ist ein schöner Mythos«, wiederholte Gianni, als er über den festlich gedeckten Tisch hinweg den Blickwechsel zwischen Angelo und mir bemerkte. »Und dieser Mythos hat der Kirche bisher sehr genützt. Die
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