Die Evangelistin
in einer kleinen portugiesischen Dorfkirche.
Zum Abendgebet begleitete mich Celestina in die Synagoge, aus der an diesem Trauertag Licht und Schmuck entfernt worden waren. Anschließend kehrten wir in Montefiores Haus zurück.
Sie hielt mit mir die Trauerriten, fastete einen Tag lang ohne Brot und Wasser, saß ohne Schuhe neben mir auf dem Boden und las im Buch der Klagelieder: »›Die Herrlichkeit Israels hat Er vom Himmel zur Erde geworfen. Der Herr ist wie ein Feind geworden. Israel hat Er vernichtet. In Tränen vergehen meine Augen … Jeruschalajim, wer kann dich retten?‹«
Am Morgen des 11. Aw – dem 21. Juli 1515 – verabschiedeten wir uns sehr herzlich von Giovanni Montefiore, bestiegen unsere Pferde, überquerten den Ponte Vecchio und verließen Florenz in Richtung Siena.
»Rom!«
Auf der Via Cassia, der alten Römerstraße, näherten wir uns, von Viterbo kommend, der Ewigen Stadt. Dann lag sie vor uns im goldenen Abendlicht: Auferstanden aus den Ruinen ihrer eigenen Vergangenheit, neu erschaffen von Papst Leos Architekt und Maler Raffaello, war das ewige Rom doch nicht halb so groß wie Granada.
Als ich vor vielen Jahren begann, über Jeschua nachzusinnen, sein Leben und sein Sterben, doch auch über mich, meine Herkunft und meine Berufung, da hatte ich oft an Rom gedacht: Würde ich, sein Sohn im Geiste, eines Tages dem Papst gegenüberstehen, dem Oberhaupt der Kirche, die Jeschua doch nie gegründet hatte? Im Kerker von Córdoba hatte ich über die Widersinnigkeit der Anklagen gegen mich nachgesonnen: War nicht auch Jeschua ein Jude gewesen, der den Schabbat hielt, der in der Synagoge mit dem Tallit um die Schultern jüdische Gebete sprach und der an Jom Kippur seine Sünden büßte? Verkündete ich nicht mit seinen Worten das ersehnte Königreich der Himmel: Gerechtigkeit, Liebe und Vergebung?
Nach Sarahs und Benjamins Tod war ich geflohen, nach Salamanca, Paris und Venedig, und war Rom mit jedem Schritt näher gekommen. Und nun war ich in jener Stadt und dachte wehmütig zurück an Granada.
Celestina und ich ritten auf die Stadt zu. Schon von weitem sahen wir das gewaltige Colosseum und das Castel Sant’Angelo aus dem Häusermeer aufragen. Die Kuppel des Pantheons glühte im Licht der untergehenden Sonne.
An der Porta Flaminia zügelte Celestina ihr Pferd und sah sich um. Zerlumpte Bettler reckten uns ihre schmutzigen und schwieligen Hände entgegen.
Auf meine Frage, wen sie suche, lächelte sie: »Den Messias! Hast du mir nicht erzählt, er lebe als Bettler verkleidet vor den Toren Roms und warte auf dich und mich? Komm, Elija, lassen wir ihn nicht länger warten!«
Übermütig lachend trieb sie ihr Pferd an und galoppierte in die Stadt. Ich warf den Armen ein paar Münzen zu und folgte ihr.
Kaiser Nero hatte Rom niedergebrannt, um es als ›Neropolis‹ wiederaufzubauen – er war gescheitert. Papst Leo aber hatte seinen Traum wahr gemacht: Er hatte sein ›Leopolis‹ erschaffen! Die Caput Mundi, vor wenigen Jahren noch ein heruntergekommenes Dorf mit weidenden Kühen auf dem Trümmerfeld des Forum Romanum, trug ihren Namen wieder zu Recht: Rom war die Hauptstadt der christlichen Welt!
Gemächlich ritten Celestina und ich auf der von Papst Leo neu angelegten Prachtstraße nach Süden, vorbei am Grabmal des Augustus, der römischer Kaiser gewesen war, als Jeschua geboren wurde. Dann erreichten wir das Pantheon, das in der Antike allen römischen Göttern geweiht war und heute nur noch dem einen römischen Gott: Jesus Christus.
Hinter der antiken Kirche wandten wir uns nach Westen, trabten die prächtige Via Papalis entlang und überquerten die Tiberbrücke, die zur Engelsburg führte.
Schon von weitem konnte ich die riesige Baustelle der Kathedrale von San Pietro erkennen, der größten Kirche der Welt. Die vier gewaltigen Pfeiler schienen nicht nur die Kuppel der Kathedrale tragen zu müssen, sondern das gesamte Himmelsgewölbe! Maestro Raffaello hatte die alte Basilika von Kaiser Konstantin abreißen lassen und aus den eintausendzweihundert Jahre alten Ruinen etwas völlig Neues erschaffen: den römischen Tempel.
»Ich kann es einfach nicht fassen! Erst vor einigen Tagen sagte ich zu Seiner Heiligkeit: Eher erscheint Jesus Christus im Vatikan als Celestina Tron. Aber er hat nur gelacht und prophezeit: Sie wird kommen! Und er hatte Recht: Sie ist gekommen!«
Pietro Bembo, der päpstliche Sekretär, sprang hinter seinem Schreibtisch auf, um uns zu begrüßen. »Seine
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