Die Evangelistin
Evangelisten haben Gott nach des Menschen Bild erschaffen.«
»Gianni«, begann Celestina. »Elija schreibt kein Buch über Jesus Christus, sondern über König Jeschua ben David, den gesalbten König Israels, der mit seiner Gemahlin Mirjam, seinen Kindern und seinen Brüdern Jakob, Jehuda und Schimon nach Jerusalem zog, um die römische Gewaltherrschaft aus Israel zu vertreiben. Aber König Jeschua scheiterte, wurde von Pontius Pilatus gekreuzigt und … überlebte!«
Gianni lehnte sich auf seinem Sessel zurück. War er zornig? Nein, nur sehr ernst.
»Wozu willst du den Menschen die Wahrheit sagen, Elija?«, fragte er mich schließlich. »Und welche Wahrheit? Es gibt so viele. Und ist nicht jede dieser Wahrheiten von Gott offenbart?« Er schüttelte den Kopf, als glaube er selbst nicht daran. »Jeder Evangelist hat seinen eigenen Jesus erschaffen – als sich selbst opfernder Gottessohn, als triumphierender Welterlöser, als Lichtbringer in einer dunklen Welt, als sichtbares Symbol eines so offenbar abwesenden Gottes.
Hätte Matthäus’ aramäisch denkender Rabbi Lukas’ griechisch sprechenden Philosophen überhaupt verstanden? Und hätte nicht Markus’ streng orthodoxer Jesus den Jesus des Johannes wegen Gotteslästerung aus dem Tempel geworfen und ihn gesteinigt, wenn er gesagt hätte: ›Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben‹ oder ›Ich und der Vater sind eins‹?
Du, Elija, schreibst ein Buch über Jesus, ich aber verkünde Christus – das sind zwei verschiedene Personen. Denn Jesus ist längst gestorben, doch Christus lebt. Einen Mythos kannst du mit deiner Schreibfeder nicht töten.«
Als ich betroffen schwieg, fuhr er fort:
»Mythen sind tiefste Sehnsucht, Glaube, Hoffnung und Trost. Die Hoffnung, dass der Tod nicht das Ende ist. Der Glaube, dass das Leben, das Leiden an der eigenen Unvollkommenheit und das verzweifelte Warten auf den Erlöser, der seit nunmehr eintausendfünfhundert Jahren nicht gekommen ist, einen tieferen Sinn haben könnte! Und die Antwort auf die Frage: Wo war Gott, als Sein Sohn in tiefster Gottverlassenheit am Kreuz starb? Und warum schweigt Er immer noch angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeit der Welt?
Nimm den Menschen nicht ihre Hoffnung, ihren Trost, ihre Gebete!«, drang er in mich. »Nimm ihnen nicht ihren Glauben! Denn das Denken – das Zweifeln, das Fragen-Stellen und das Sich-selbst-Antworten-Geben – haben die meisten Menschen, im Gegensatz zum gläubigen Nachbeten, doch nie gelernt.«
Ich wollte etwas sagen, aber er redete mich nieder:
»Versteh mich nicht falsch, Elija: Ich kann dir das Denken und das Zweifeln nicht verbieten, und ich will es auch gar nicht. Einer meiner Vorgänger auf dem Stuhl Petri, Rodrigo Borgia, hat einmal gesagt: ›Rom ist eine freie Stadt – jeder kann tun und lassen, was er will.‹ Das ist auch meine Meinung! Das gilt für deutsche Humanisten ebenso wie für jüdische Rabbinen.
Schreib dein Evangelium, Elija! Ich habe keine Angst vor deinem Buch, ganz im Gegenteil. Ich schätze Celestina als eine Humanistin, die nach kristallklaren ethischen Grundsätzen lebt. Sie ist ein funkelnder Diamant, wunderschön, faszinierend und unzerstörbar. Das haben mir ihre Briefe aus dem Exil in Athen bewiesen, die sie an Jeanne d’Arc und die Päpstin Johanna schrieb – und ihr neues Werk, das ich das ›Credo der Humanitas‹ nenne. Dieses Buch ist ein kostbarer Schatz der Menschlichkeit!
Wäre Celestina nicht Giacomo Trons Tochter, sondern sein Sohn gewesen und im Konklave gegen mich angetreten, dann wüsste ich nicht, wer von uns beiden heute Papst wäre.
Für Celestina lege ich meine Hand ins Feuer. Wenn ihr also gemeinsam an deinem Buch schreibt, kann es nur wahr sein. Und ich werde nicht den Fehler begehen, gegen die Wahrheit zu kämpfen!
Aber eine Diskussion deiner revolutionären Thesen im Laterankonzil kann ich nicht zulassen! In einer Glaubensdisputation auf dem Konzil, in einem intellektuellen Kampf zwischen Recht und Macht würdest du keinen Schritt zurückweichen und am Ende vielleicht sogar die Kardinäle in die Knie zwingen. Das darf ich nicht zulassen, Elija! Und wenn Celestina an meiner Stelle Papst wäre, würde sie ebenso entscheiden!«
Celestina senkte den Blick, um über Giannis Worte nachzusinnen. Dann nickte sie still.
»Als studierter Theologe bin ich beeindruckt von deinem König Jeschua und seiner jüdischen Prophetenlehre, und als weltoffener Humanist würde ich dein Verlorenes Paradies sehr
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